Depeche Mode
sein, eine Wohnung ist wie eine Niere, muß von allem möglichen Dreck gereinigt werden, sonst kommt man gar nicht nach mit dem Leichenräumen, hier aber riecht es nach Kaffee und Ketchup, der süße Geruch von Ketchup, Geruch eines normalen Lebens und geregelter Ernährung, ich ertrage ihn nicht, Ketchup geht mir unter die Haut, ich rieche an meinen Nägeln – sie riechen nach Ketchup – Ketchup und löslichem Kaffee, Honig und Ketchup, all diese Tiegel und Töpfe, große, spiegeleiverschmierte Teller, Gabeln mit gestockter Schokolade – alles riecht nach Ketchup, mir wird schlecht, Wasja, sage ich, laß uns abhauen, wohin? sagt er, wo sollen wir denn hin? draußen ist es dunkel, wir haben noch Zeit, wir müssen hier warten, bis es Zeit ist zu gehen, laß uns bei diesem Schwulen hier warten, Ketchup, – sage ich, was? Wasja versteht nicht, Ketchup – schreie ich ihn an und er nickt, als ob er sagen will ja ja, Ketchup Ketchup, aber natürlich, Ketchup, laß uns in ein anderes Zimmer gehen, sage ich, hier ist so viel Geschirr, er widerspricht nicht, und wir gehen in den Flur und von da ins Wohnzimmer, sein Wohnzimmer ist auch voll von irgendwelchem antiquarischem Scheiß, verdammt, das stört mich total, also wenn ich sehe, daß vor mir jemand hier gewohnt hat und im Unterschied zu mir ein echtes Leben führte, frühstückte, Sex hatte, vielleicht sogar jemanden liebte, auf den Markt und in Geschäfte ging, nicht nur grade so mit seinem Geld auskam, sondern kaufte, was er wollte, Ketchup, Arbeit hatte, Leute kannte, Kleider trug, die ihm gefielen, in Urlaub fuhr, er hatte richtig Urlaub, Picknick machte, kochen konnte, verschiedene Sachen schmackhaft zubereitete, aber selbst nicht aß, Ketchup, Ketchup, seine Krankheiten nicht nur mit Wodka behandelte, sondern Medikamente hatte, eine Hausapotheke, Ärzte unter seinen Bekannten, in der Mittagspause manchmal ein Restaurant besuchte, und zwar nicht, um einen zu heben, sondern um zu essen, Lieblingsgerichte hatte, fuck, Lieblingsgewürze, Ketchup, Ketchup, Ketchup, und wo war ich inzwischen? warum war nicht ich hier, zwischen ihren ganzen Schränken und Sofas, übergossen mit Ketchup und Zitronensaft, warum hat mich keiner adoptiert, also zum Beispiel als ich ein paar Tage lang auf dem Busbahnhof wohnte und auf Holzbänken schlief, oder als ich mich ein paar Tage von abgekochtem Wasser ernährte, warum adoptiert mich eigentlich keiner, warum kann mich dieser Schwule nicht adoptieren? ich wäre der richtige Waisenknabe für Schwule, ich bin schon neunzehn, schon selbständig genug, brauche nicht ständig Aufmerksamkeit, niemand muß mir die Windeln wechseln oder mich mit Brei füttern – irgendwelche ganz minimale Nahrung, warmes Wasser, Klopapier, Pornos auf Video, Weiber in der Küche, Marihuana auf dem Balkon, aber das ist gar nicht das Wichtigste, das Wichtigste ist elterliche Liebe, normale und beständige elterliche Liebe, echte elterliche Liebe, wie im Fernsehen.
Wir stoßen auf einen geilen Superphono, so einen hatte ich, als ich klein war – auf vier hohen Beinen, in einem Holzkasten, mit einer Skala aus Glas, auf der in Schwarz all die Städte der Welt stehen, von denen ich in meiner Kindheit träumte und die mich hören konnten, – Prag, Warschau, Belgrad, Ostberlin, auf so einem geilen Superphono konnte man Platten spielen und Radio, in meiner Kindheit habe ich verkratztes Vinyl gehört, aber dieser Schwule hat keine Platten, außer einer stinkigen Sowje-Beatles, aber Wasja und ich sind doch keine Arschlöcher, die Beatles hören, und dann auch noch in so einem gespenstischen Zustand, wo die Dinge zerbröseln und die Gerüche ganz im Gegenteil – haften bleiben und es unmöglich ist, das alles zu verstehen, wir drehen am Radio herum, der geile Superphono krächzt traurig, und plötzlich erklingt eine Stimme aus dem Jenseits:
Guten Abend, verehrte Hörerinnen und Hörer. Möge Friede in Ihre gemütlichen Hütten treten.
– Wer tritt? – fragt Wasja.
– Der Friede, – sage ich. – In die Hütten.
– Ach so, – sagt Wasja.
An diesem wunderschönen Abend,
– Echt wunderschöner Abend, – sagt Wasja, – den ganzen Tag schifft es.
wie immer samstags um 22.00 Uhr hören Sie die Jugendsendung »Musikalische Sphären«. Am Mikrophon khrrrrrrrrrr khrrrrrrrrr, – sagt der Superphono. – Unsere heutige Sendung ist dem Schaffen einer beliebten irischen Musikgruppe gewidmet, die nicht nur bei uns, sondern auch in anderen
Weitere Kostenlose Bücher