Depesche aus dem Jenseits
beiden Männer sitzen sich seit einer Viertelstunde stumm, aber keineswegs feindselig gegenüber. Ein geduldiger Kommissar vor einem hartnäckigen Ganoven, der nicht singen will? Nein. Beide warten lediglich auf den hohen Beamten des Generalsekretariats von Interpol, der jeden Augenblick eintreffen soll. Er kommt extra aus Paris mit dem Auftrag, dem irrsinnigen Katz-und-Maus-Spiel ein für allemal ein Ende zu machen. Wobei nicht eindeutig klar ist, wer hier eigentlich die Katze ist und wer die Maus.
Als Jean Primo vor einigen Tagen dem Kommissar Viaud vorgeführt wurde, glaubte dieser zuerst, es handele sich nur um einen ganz gewöhnlichen Fall illegaler Einreise. Doch bald merkte er — die Dinge liegen weitaus komplizierter! Einfach einen Ausweisungsbefehl zu verhängen — damit wäre es nicht getan. Ja, das wäre sogar lächerlich! Interpol mußte eingeschaltet werden. Und Paris schickte nicht etwa einen beliebigen Beamten nach Marseille, sondern gleich den Leiter des Generalsekretariats! Jean Primo ist nämlich nicht irgendwer.
Kurz nach sieben Uhr betritt also der Interpol-Beauftragte das Büro. Er nickt, grüßt knapp, nimmt Platz und mustert zuerst einmal diesen berühmten Jean Primo in aller Ruhe. Offensichtlich kann er es gar nicht fassen, endlich vor dem Mann zu sitzen, der — nicht nur für Interpol — zur Legende geworden ist. Jean Primo ist es allerdings anscheinend völlig gleichgültig, was um ihn geschieht und vor allem, was mit ihm geschehen soll.
Jetzt schweigen alle drei Männer! Ja, vor Jean Primo fällt jedem das Reden schwer — und er selber denkt nicht im Traum daran, wieder einmal die Geschichte seines Lebens von vorne abrollen zu lassen.
Ein verlegenes Räuspern, und der Pariser Hohe Kommissar leitet endlich das Gespräch ein:
»Sie machen nicht gerade den Eindruck, als wären Sie begierig darauf, mir von Ihren Schwierigkeiten zu erzählen.«
»Stimmt.«
»Wenn ich Ihnen helfen soll, wird sich das aber nicht vermeiden lassen.«
»Sie können mir nicht helfen.«
»Woher wollen Sie denn das so genau wissen?«
»Andere haben es vor Ihnen versucht! Könige, Präsidenten, Diktatoren! Keiner hat etwas erreicht.«
»Nun, zugegeben... Verglichen mit solchen Persönlichkeiten bin ich nur ein kleiner Polizist, aber ich habe mir nun einmal fest vorgenommen, etwas für Sie zu tun und ich werde keine Ruhe geben, bevor wir eine Lösung gefunden haben! So geht es nicht weiter!«
»Warum nicht? Bis jetzt hat es keinen gestört, und mir ist mittlerweile alles egal!«
»Das kann ich Ihnen nachfühlen! Aber wenn’s so ist, kommt es sowieso nicht mehr auf einmal mehr oder weniger an, oder? Erzählen Sie! Bitte.«
»Meinetwegen! Wo soll ich denn anfangen?«
»Ganz von vorne!«
»Gut. Aber es wird eine lange Nacht werden!«
Und Jean Primo beginnt zu erzählen — mit tiefer, matter Stimme, in der alle möglichen Klänge vieler Sprachen mitschwingen. Er erzählt sein Leben: eine unvorstellbare Geschichte.
Alles beginnt am 9. Oktober 1907 in Istanbul. »Barmherzige Schwestern« lesen an jenem Morgen ein Findelkind vor dem Elisabethinerinnen-Kloster auf. Es ist etwa sechs Monate alt, vielleicht auch älter. Schwer zu sagen, denn das Kind ist unterernährt. Es trägt nichts bei sich, das seine Herkunft verraten würde: keinen Brief, keine Halskette, kein Medaillon. Nichts. Nur eines fällt auf: es sieht nicht türkisch aus mit den spärlichen, aber doch eindeutig blonden Haaren und mit seinen blauen Augen. Auch seine Haut ist ganz hell. Woher mag es nur kommen?
Die Oberin des französischen Missionsklosters will selbstverständlich das Findelkind bei den zuständigen Behörden melden, aber wen kümmerte schon damals — 1907 — ein ausgesetztes Baby. Noch dazu in Istanbul, wo nicht einmal die kinderreichen türkischen Familien sich die Mühe machten, ihre Neugeborenen anzumelden!
Bei den Behörden wird also die christliche Oberin ziemlich schroff abgefertigt:
»Machen Sie damit, was Sie wollen! Sie sagen doch selber, daß Sie keine Ahnung haben, woher es kommt, ja, daß es möglicherweise sogar ein ausländisches Kind ist! Wir melden uns schon bei Ihnen, falls ein Baby in der nächsten Zeit als vermißt gemeldet werden sollte!«
Die Nonnen behalten also den Jungen und taufen ihn auf den Namen Jean Primo. »Primo«, weil es das erste Kind ist, das ihnen auf diese Weise anvertraut wurde. In den Annalen des Klosters wird lediglich vermerkt:
»9. Oktober 1907 — Findelkind
Weitere Kostenlose Bücher