Depesche aus dem Jenseits
daß Babuschka das nicht mehr erleben mußte.
Zelle 341
12. Januar 1982, 8 Uhr morgens. Ein Wagen des Justizministeriums hält vor der Pforte der Strafanstalt von Fresnes — diesem im Zweiten Weltkrieg leider sehr berüchtigten Gefängnis am südlichen Rand von Paris.
Das Tor geht langsam auf — die schwarze Limousine fährt durch und rollt etwa 100 Meter weiter bis zum Haupteingang des Gebäudes.
Der Oberaufseher wartet schon. Beflissen eilt er zu dem Dienstwagen und öffnet die Tür. Ein Mann steigt aus — er ist etwa fünfzig Jahre alt, groß und schlank, von gepflegter Erscheinung. Er wirkt sehr vornehm.
Wortlos, mit einem knappen Kopfnicken, grüßt er den Mann in Uniform, der ehrerbietig flüstert:
»Hätten Sie die Güte, mir zu folgen, hier entlang bitte!« Die beiden Männer betreten das Gebäude und gelangen wenige Minuten später in einen Umkleideraum. Hier tauscht der Besucher seinen noblen Zweiteiler mit Weste gegen den gewöhnlichen blauen Sträflingsanzug. Jetzt unterscheidet er sich oberflächlich betrachtet kaum noch von den übrigen Inhaftierten.
Mit dem Oberaufseher an seiner Seite geht er nun durch die kahlen Gänge. Diese scheinen kein Ende zu nehmen. Ein Gang und noch ein Gang — eine Gittertüre und noch eine Gittertüre. Unter den neugierigen Blicken der Häftlinge überqueren sie dann den Gefängnishof und betreten endlich ein großes, eiskaltes Büro im Erdgeschoß des Nebengebäudes.
Der Direktor, ein kleiner, magerer und sichtlich nervöser Mann erwartet sie bereits und empfängt seinen neuen Gast mit betonter Höflichkeit:
»Wir haben alle Vorbereitungen getroffen. Ich hoffe, Sie werden keinerlei Anlaß zur Beanstandung haben. Wenn es Ihnen recht ist, wird der Aufseher Laperre Sie nun zu Ihrer Zelle begleiten.«
Der neue Sträfling folgt dem Aufseher bis zu seinem Quartier in einem ziemlich verwahrlosten Hinterhaus. Kurz darauf betritt er in gefaßter Haltung die Zelle 341. Die schwere Eisentür fällt knirschend hinter ihm zu. Kaum hat er sich in dem engen Raum umgesehen, schon ertönt eine Stimme:
»Nun, wie fühlen Sie sich? Platzangst?«
Ein paar Zimmer weiter erscheint sein Gesicht auf einem Bildschirm. Und er antwortet gleichmütig:
»Nein, nein, meine Herren, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen. Ich leide nicht so bald an Klaustrophobie. Es kann losgehen!«
Vor dem Bildschirm sitzt ein Mann im weißen Kittel. Er schaltet ein Tonbandgerät ein und gesellt sich zu seinen beiden Kollegen hinter einem Ungetüm von Apparaturen. Kreuz und quer verlaufen Kabel und Leitungen, bunte Kontrollichter blitzen auf, überall Knöpfe und Tasten.
Was geht hier vor? Ist der neueingelieferte Häftling etwa so lebensmüde, daß er mit einem derartigen technischen Aufwand überwacht werden muß?
Nein. Er hat weder Selbstmordgedanken, noch besteht die Gefahr, er könne fliehen wollen. Trotzdem wird er rund um die Uhr strengstens beobachtet. Warum? Eben das ist die Frage. Und weil man darauf eine Antwort haben will, sitzt er in Zelle 341.
Der Häftling in Zelle 341 heißt Raimbaud. Dr. Raimbaud. Er ist Professor für Parapsychologie an der Medizinischen Fakultät der Pariser Universität und ist eine in Fachkreisen weltweit anerkannte Persönlichkeit. Professor Raimbaud hat sich keine strafbare Handlung zuschulden kommen lassen und er wurde auch nicht von einem Gericht zu irgend etwas verurteilt.
Nein, wenn er heute hinter Gittern sitzt, so geschieht das ganz und gar auf seinen eigenen Wunsch: Dr. Raimbaud hat sich bereit erklärt, tagelang, wochenlang, ja monatelang, wenn es sein muß, sich einem ungewöhnlichen Test zu unterziehen. Er wird Versuchskaninchen spielen — wie gefährlich das auch immer sein mag. Er ist mit allem einverstanden und hat seinen beiden Mitarbeitern befohlen, das Experiment bis zur äußersten Grenze voranzutreiben. Das Rätsel der Zelle 341 aufzuklären.
Nachdem Dr. Raimbaud die paar Quadratmeter seiner Zelle inspiziert hat, liegt er nun auf der harten Pritsche und denkt nach. An der Wand, über der Lagerstatt, sind viele Striche, Kreuze und Buchstaben eingeritzt, aber nur zwei davon interessieren ihn: »R. L.« Er weiß nur zu gut, was sie bedeuten: Raymond Latour. Der Name eines Opfers der eigenwilligen Zelle 341. Nur seinetwegen ist Dr. Raimbaud hier!
Drei Jahre vorher, am 15. Januar 1979, so gegen 5 Uhr morgens, dreht der Aufseher Laperre seine letzte Runde, bevor er von seinem Kollegen abgelöst wird. Draußen ist es noch dunkel
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