Depesche aus dem Jenseits
fragt knapp, mit rüdem Ton:
»Was ist passiert?«
Der Vater erzählt umständlich von der psychischen Krankheit des Kindes, von den notwendigen Sitzungen beim Therapeuten, die übrigens unbedingt auch während der Ferien fortgesetzt werden müssen. Der Fall sei schon an einen Kollegen in New York überwiesen worden, und er erwarte den Jungen zweimal in der Woche!
»Quatsch! Das ist doch dummes Zeug!«
»Wie du meint. Dann nehme ich Michell gleich wieder mit! Du bist ja genauso verrückt wie er!«
Nein, Granny ist nicht verrückt, und mit diesem Holzkopf von borniertem Schwiegersohn wird sie allemal fertig:
»Bitte... verzeih mir! Die Freude, euch zu sehen... das war ein bißchen viel für mich! Aber im Ernst... geht es Michell wirklich so schlecht?«
»Ja. Die bisherige Therapie läßt allerdings hoffen, daß er sein seelisches Gleichgewicht bald wieder findet.«
»Ah ja, das ist dann etwas anderes. Nun, du hast mein Wort! Das arme Kind...«
Schon am nächsten Tag fährt der Vater wieder ab. Endlich! Die Großmutter und der Junge winken artig hinterher, bis der Wagen um die Ecke biegt, dann fallen sie sich lachend in die Arme, wie listige Spitzbuben, die etwas ausgeheckt haben.
»So, mein Junge, das hätten wir geschafft! Und was fange ich jetzt mit dir an, du Psychopath!«
»Klingt doch echt gut, oder? Aber keine Angst, Granny, ich bin ganz normal, ich mußte nur so ein Theater machen, sonst hätte er mich nicht wieder zu dir gelassen.«
»Du brauchst mir nichts zu erzählen! Und wir beide, wir gehen auch bestimmt nicht zu diesem Seelendoktor! Du mußt nur auf andere Gedanken kommen, das ist alles. Überleg mal — was möchtest du in den Ferien machen?«
»Ich möchte fliegen! Irgendwohin, ganz weit weg! Mit dir zusammen!«
»Fliegen? Darauf wär’ ich nicht gekommen! Eine tolle Idee, warum eigentlich nicht? Also gut, meinetwegen, morgen geht’s los! Adieu, verehrter Schwiegersohn mit deiner Seelenmassage! Wir schicken dir schöne Postkarten! Wie hättest du sie am liebsten, bunt oder schwarzweiß?«
Wir erwähnten es schon, Großmutter Betty ist eine ungewöhnliche alte Dame! Schon nachmittags geht sie zu ihrer Bank und hebt ein kleines Vermögen von ihrem Konto ab. Sie hat genug Geld. Vor fünf Jahren, als sie 70 Jahre alt wurde, hat sie nach einem langen Arbeitsleben ihre Molkerei verkauft — das kleine, aber einträgliche Geschäft, das sie von ihrem Mann geerbt hatte.
Michell springt in die Luft vor Freude, als der Kassierer die vielen grünen Scheine abzählt und sie der alten Frau mit hochgezogenen Brauen überreicht. Sie will nämlich nur bares Geld. Schecks und Kreditkarten findet sie viel zu unpersönlich! Auch im Reisebüro nebenan sorgt sie mit ihrem Enkel für verständnisloses Kopfschütteln:
»Wir wollen morgen spät nachmittag irgendwohin fliegen. Weit weg. Was können Sie uns empfehlen?«
»Hin und zurück?«
»Nein. Nur hin. Dann sehen wir schon weiter.«
»Und in welche Richtung soll die Reise ungefähr gehen?«
»Das ist egal! Aber übers Meer, ja, übers Meer, das wäre schön!«
»Also nach Europa. Paris? London? Rom?«
»Wie lange dauert der Flug nach Europa?«
»Je nachdem acht, neun Stunden ungefähr.«
»Dann noch weiter!«
Die Reisebüroangestellte verkneift sich mühsam eine freche Bemerkung und fragt schließlich zuckersüß:
»Wie wär’s mit Tel-Aviv? Da hätten Sie zuerst den Atlantik und dann das Mittelmeer! Abflug 16 Uhr. Bis es dunkel wird, haben Sie bestimmt genug vom Wasser!«
»Gut, Tel-Aviv. Zwei Tickets bitte!«
Und Großmutter Betty zahlt bar.
Donnerstag, 8. Juli 1971, 16 Uhr — Take-off nach Tel-Aviv...
Welch ein herrliches Gefühl! Noch schöner als im Traum. Die alte Dame und der Junge haben sich noch nie so wohl, so frei, so glücklich gefühlt. Sie lachen und kichern, lassen sich von den Stewardessen verwöhnen, hier ein Schlückchen Champagner für die Oma, da Popcorn für den Kleinen. Darf’s sonst noch etwas sein? Komisch, im Himmel sind die Menschen viel freundlicher als unten! Schade, daß die Maschine nach dem langen Flug schon zur Landung in Tel-Aviv ansetzt! Da sagt die Großmutter, so nebenbei:
»Im Grunde genommen ist es nicht das Ziel einer Reise, was wirklich zählt. Die Reise an sich ist das Wichtigste.«
»Dann laß uns doch gleich weiterfliegen, Granny!«
»Warum nicht? Es ging ja viel zu schnell!«
Im Flughafengebäude von Tel-Aviv rennen sie sofort zum Schalter ihrer Fluggesellschaft, freuen sich, daß noch zwei
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