Depesche aus dem Jenseits
glücklich, als ich bei ihr lebte. Sie liebt mich und ich liebe sie.«
»Wie alt ist sie?«
»Fünfundsiebzig.«
»Ist sie gesund?«
»Oh ja! Sie ist genauso wie meine Mutter war! Fröhlich und immer lustig!«
»Michell, hör mir jetzt gut zu. Wenn dein Vater sein Einverständnis nicht freiwillig gibt, wirst du nichts erreichen, denn er hat das Gesetz auf seiner Seite. Du mußt es anders anfangen. Wir beide schaffen das schon — schrittweise! Bis zu den Ferien kommst du zweimal in der Woche zu mir — zum Schein. Ich weiß, daß du nicht krank bist! Ganz allmählich benimmst du dich dann besser! Ich spreche gleich mit deinem Vater und ich verspreche dir: die Ferien wirst du bei deiner Großmutter verbringen! Aber das bleibt unter uns! Einverstanden?«
»Ja! Danke, Herr Doktor! Also, wir sehen uns bald. Soll ich meinen Vater bitten hereinzukommen? Ich warte solange draußen.«
Michell steht auf, verabschiedet sich artig von Dr. Harrison und geht ins Vorzimmer hinaus:
»Daddy, jetzt bist du dran. Ich warte hier auf dich.« Völlig entgeistert schaut Mr. Howard seinen Sohn an. Seinen freundlichen, braven, lieben Sohn! Wie hat es der Psychiater nur hingekriegt, den Jungen innerhalb von fünf Minuten so vollkommen umzukrempeln? Berufsgeheimnis!
Nun sitzt Mr. Howard vor dem Mann der Wissenschaft, der ihm seine Diagnose mit der adäquaten Öligkeit darstellt:
»Lieber Mr. Howard — wir stehen offenkundig vor einem akuten Fall einer Pubertätsneurose, die ich — um alle für Sie wahrscheinlich unverständlichen Fachausdrücke zu vermeiden — als Vater-Sohn-Syndrom bezeichnen möchte. Ich will kein Referat darüber halten, seien Sie unbesorgt! Nur soviel sollten Sie wissen und auch verstehen: Michell braucht im Augenblick sehr viel Liebe und Aufmerksamkeit. Allein aus diesem Grund benimmt er sich so auffallend. Selbstverständlich ist er sich selber dessen nicht bewußt.«
»Aber ich liebe meinen Sohn doch!«
»Zeigen Sie es ihm! Schenken Sie ihm das, was ihm zur Zeit so sehr am Herzen liegt: Wunderschöne Ferien bei seiner Großmutter!«
»Wenn ich jetzt nachgebe, verliere ich ja jegliche Autorität!«
»Nein. Vorerst sagen Sie ihm nichts darüber und schicken ihn zweimal die Woche zu mir. Ich verspreche mir viel von diesen psychotherapeutischen Sitzungen. Und sollte Michell sich tatsächlich wieder fangen — wovon ich überzeugt bin — dann beweisen Sie ihm, wie sehr Sie ihn lieben und lassen Sie ihn die Ferien mit der Großmutter verbringen. Ich meine, es wäre einen Versuch wert.«
»Dr. Harrison, ich vertraue Ihnen voll und ganz. Ich gebe meinen Jungen in Ihre Hände!«
Mr. Howard ist beruhigt, aber vor allem ist er erleichtert — entlastet von jeder Verantwortung. Nun soll der fabelhafte Spezialist zeigen, was er kann! Michell leidet unter einem Vater-Sohn-Syndrom? Na schön, so schlimm ist es also nicht. Nur eine vorübergehende Krise. Wenn er frech ist, kann er nichts dafür, wenn er aus der Schule fliegt, kann er nichts dafür, wenn er sich benimmt wie das hinterletzte Ferkel, dann kann er auch nichts dafür! Geduld und Verständnis sind angesagt, der Junge wird nicht mehr bestraft werden und bald — in ein paar Wochen schon — darf er ohnehin zu seiner heißgeliebten Großmutter. Ferienwunsch geht auf Rezept in Erfüllung. Wie schön für alle, wie praktisch!
Michell spurt wie alle es von ihm erwarten: Zweimal die Woche legt er sich auf die Seelenmassagebank des Psychiaters — zur Beruhigung seines Vaters und ganz nebenbei auch zum Wohl von Dr. Harrisons Bankkonto! Eine Hand wäscht die andere — das hat er kapiert. Und zu Hause dosiert er sorgfältig seine »Lieber-Junge-Vorstellungen« bis es endlich soweit ist: Anfang Juli fahren Vater und Sohn nach New York zur Großmutter Betty!
Welch eine prachtvolle alte Dame mit ihren 75 Jahren!
Sie lebt allein, seit ihr Mann im Zweiten Weltkrieg in Europa gefallen ist. Später starb ihr Sohn, und schließlich, vor zwei Jahren, verlor sie auch noch ihre Tochter — Michells Mutter. Aber trotz all dieser Schicksalsschläge ist Betty keine triste Großmutter. Ganz im Gegenteil! Sie liebt das Leben und überhaupt alles was lebt mit tiefer Leidenschaft: die Kinder, die Vögel, die Katzen, die Musik, den Wind, die Sonne und den Regen. Und ihren einzigen Enkel Michell liebt sie geradezu abgöttisch. Heute empfängt sie ihn mit offenen Armen! Nach der langen, überschwenglichen Begrüßung schaut sie ihrem Schwiegersohn scharf in die Augen und
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