Depesche aus dem Jenseits
Raymond! Bist du schon da! Es tut mir leid... vorhin auf dem Friedhof bin ich durchgedreht. Es war nichts Besonderes. Es geht schon besser. Möchtest du etwas trinken? Marie hat sich hingelegt, hoffentlich kann sie einschlafen, nett, daß du gekommen bist!«
Jean Nieto benimmt sich anders als sonst und schon gar nicht wie ein Vater, der erst vor ein paar Stunden seine Tochter beerdigt hat. Er spricht aufgeregt, ja aufgedreht, ohne Punkt und Komma, läuft unruhig hin und her von der Küche ins Wohnzimmer, offenbar ohne zu überlegen, was er tut und was er sagt. Er spricht sogar über das Wetter: »Gott sei Dank schien heute die Sonne. Bei der Beerdigung von Jeanne hat’s geregnet, erinnerst du dich?
»Ja. Du wolltest mir etwas über die anderen erzählen...«
»Ach, vergiß es, bitte Raymond, vergiß es!«
Die beiden Männer schauen sich einen Augenblick an — ohne ein Wort. Irgend etwas steht zwischen ihnen wie eine Mauer — das spürt Raymond, aber er stellt keine Fragen mehr. Der Vater setzt sich an den großen Eßtisch, schenkt sich und Raymond ein Glas Wein ein, Raymond trinkt einen Schluck und lehnt sich in seinem Stuhl zurück, bereit, den ganzen Abend bei seinem Freund zu bleiben — auch wenn der nicht sprechen will.
Nach einer Weile wirft Jean Nieto die Arme über den Tisch, legt seinen Kopf darauf und beginnt zu schluchzen wie ein kleines Kind. Seine ganze Verzweiflung kommt endlich heraus.
Raymond versucht in diesem Augenblick nicht, ihn zu trösten — später vielleicht.
Er steht lieber auf und geht automatisch, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, zum Bücherregal und wirft einen Blick auf die Titel. Er kennt Jean erst seit gut zwei Jahren, seit die Familie Nieto in den Ort gezogen ist — und er war nur ein paarmal hier im Haus. Meistens treffen sie sich in der Dorfkneipe und spielen Karten mit dem Apotheker, oder sie gehen zusammen zur Jagd und zum Fischen. Im Grunde genommen weiß Raymond wenig über Jean. Er hatte zum Beispiel keine Ahnung, daß er sich so sehr für die Magie interessiert. Das Regal steht voll von Büchern und Fachzeitschriften und allerlei Heften über Parapsychologie, Okkultismus und Spiritismus. Er nimmt eines heraus, blättert darin und wird immer nachdenklicher, als er merkt, daß Jean diese Bücher nicht nur liest, sondern anscheinend regelrecht durcharbeitet. Auf fast jeder Seite hat er sich Notizen gemacht, hat Zeilen unterstrichen, Zusätze und vergleichende Seitenzahlen an den Rand geschrieben — wie ein Student, der Belege für eine Doktorarbeit sammelt.
Raymond, der in seine Lektüre vertieft ist, erschrickt, als die Stimme seines Freunde auf einmal das Schweigen bricht:
»Es hat mich jemand verflucht! Ein Fluch liegt auf mir! Lach mich ruhig aus, ich weiß es besser!«
An einem anderen Tag, unter anderen Umständen, hätte der Polizist ihn tatsächlich ausgelacht — heute nicht. Und er antwortet, so als sprächen sie wieder über das Wetter: »An deiner Stelle würde ich bestimmt auch an so etwas glauben. Zuerst Jeanne, dann Catherine...«
»Das ist es nicht allein, du weißt nichts von den anderen...«
Raymond kennt — so wie alle Leute im Dorf — das tragische Schicksal, das die Familie Nieto seit genau einem Jahr heimsucht. Aber niemand ahnt, was vor 1981 geschehen ist. Darüber haben Jean und Marie Nieto niemals gesprochen, und auch ihre Töchter Jeanne und Catherine nicht.
Eines Tages, Anfang 1981, zogen sie in dieses Dorf und lebten sich bald ein. Sie wurden von der kleinen Landgemeinde freundlich aufgenommen und fanden schnell Kontakt zu den alteingesessenen Bewohnern. Jeanne war damals sechzehn Jahre alt und Lehrmädchen bei einem Bäcker in der Stadt, dreißig Kilometer vom Dorf entfernt. Sie hatte ein Zimmer im Haus des Bäckers, und fuhr nur am Wochenende heim.
Mitten im Sommer verliebte sie sich in einen jungen Kellner, der jeden Morgen in der Bäckerei frische Baguettes für sein Restaurant holte. Ein sehr netter Mann, aber schon verheiratet und Familienvater. Als er merkte, daß die Schwärmerei des hübschen Lehrmädchens tiefer ging, gab er Jeanne schonend, aber eindeutig zu verstehen, er liebe seine Frau und sein Kind und habe keineswegs die Absicht, untreu zu werden und noch dazu eine Minderjährige zu verführen.
Jeanne steigerte sich immer mehr in ihren Liebeskummer hinein und war nach einem Jahr so verzweifelt, daß sie nicht länger leben wollte. Ihre Schwester Catherine fand sie an einem Septembermorgen tot in ihrem Bett. Sie
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