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Depesche aus dem Jenseits

Depesche aus dem Jenseits

Titel: Depesche aus dem Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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heiße Youssef! Und ich bin Franzose genau wie Sie! Was ich vor dreißig Jahren gemacht habe? Ob ich in Algerien war? Das geht Sie einen Dreck an! Aber ich verrate es Ihnen trotzdem. 1957, da war ich in Algier, sieben Monate lang im Krankenhaus, verwundet auf dem Felde der Ehre! Ja, im Kampf um Algerien... mit einer französischen Uniform! Wollen Sie die Narben sehen?« Es war der falsche Youssef. Der andere, der echte, kann keine Fragen mehr beantworten. Er liegt auf dem Friedhof. Sein Sohn, sein einziges Kind, hat ihn in einem Anfall von algerischem Patriotismus erstochen. Er machte seinen Vater für das elende Leben in Frankreich, fern von der Heimat, verantwortlich.
    Aber nicht der Vater, sondern der Sohn ist in unserem Fall von Bedeutung: Nach dem Mord an seinem Vater hat er sich in der Jugendstrafanstalt erhängt. Er war siebzehn Jahre alt!
    Der Harki Youssef hat keine Kinder mehr.
    In einer kleinen Stadt im Norden Frankreichs trifft Jean Nieto nach dreißig Jahren auf den zweiten Mann, der damals dabei war. Es geht ihm anscheinend sehr gut. Er ist ein erfolgreicher Baumeister und glücklich verheiratet:
    »Schön, dich wiederzusehen, Jean! Was ist aus dir geworden?«
    Jean erzählt alles, auch was er über Youssef erfahren hat. Der joviale Baumeister wird immer stiller. Und dann sagt er:
    »Sechs Monate nach meiner Hochzeit hatte ich einen Unfall auf der Baustelle. Beckenbruch und noch einiges mehr. Ich konnte keine Kinder mehr haben.«
     
    Bei der nächsten Adresse auf der Liste macht eine alte Frau die Tür auf und fängt gleich zu weinen an, als Jean sie nach ihrem Sohn fragt:
    »Was aus ihm geworden ist? Als er aus Algerien zurückkam, hat er uns gesagt, daß er Pfarrer werden will. Aber die Kirche hat ihn nicht haben wollen... ich weiß nicht, was er dort alles erzählt hat. Er war verzweifelt. Kurz darauf ist er zu irgend einer Sekte gegangen. Drei Jahre lang ist er dort geblieben, wir haben ihn nur noch gesehen, wenn er von uns Geld für seinen Guru haben wollte. Am Ende war er nur noch Haut und Knochen, und allmählich hat er den Verstand verloren! Er kam in eine geschlossene Anstalt. Dort ist er vor drei Jahren gestorben.«
     
    Der letzte auf der Liste ist kerngesund, verheiratet und hat ein Kind. Ein Kind, das lebt! Ein fröhliches Kind, einen fünfzehnjährigen, gesunden Jungen! Aber der Schein trügt — dieses Kind wird niemals erwachsen werden. Geistig ist er sechs Jahre alt und er wird niemals älter. Als die Mutter damals die schreckliche Wahrheit über die geistige Krankheit des Buben erfuhr, hat sie beschlossen, nie wieder schwanger zu werden. Heute ist sie fünfzig Jahre alt. Der Lieutenant wird keine Kinder mehr haben.
     
    Das ist alles. Wir stellen fest:
    Das Blut der fünf verfluchten Männer wird versiegen wie ein Wadi in der Wüste.
     

Ein überflüssiger Mann
     
    Bukarest 1939. Gedämpftes Licht in einem trostlosen Hotelzimmer. Obwohl die Fensterläden geschlossen sind, dringen die warmen Spätsommer-Sonnenstrahlen durch die morschen Holzlamellen herein — die Luft ist stickig, es riecht nach Hinterhof und Geheimnistuerei. Ein Mann und eine Frau, ganz nackt, sammeln hastig ihre Kleidungsstücke zusammen, die um das aufgewühlte Bett herumliegen: Ein Liebespaar auf frischer Tat ertappt.
     
    Ein Eindringling tobt nicht, er schreit nicht, ja er bringt überhaupt kein Wort heraus. Er fährt nur nervös mit den Fingern durch seine klebrigen, spärlichen Haare und verrät so seine Erregung. Er ist sehr blaß — aber er beherrscht sich. Er nimmt es fatalistisch hin, als hätte es nicht anders kommen können. Ratlos steht er vor der nackten Wahrheit: Er ist ein betrogener Ehemann — ein Hahnrei!
    Diese banale Szene spielt sich Ende September 1939 ab. Erst vor einem Monat haben Deutschland und Rußland jenen scheinheiligen Nichtangriffspakt unterzeichnet — den berüchtigten »Stalin-Hitler-Pakt« — und schon eine Woche später, am 1. September, marschierten die deutschen Truppen in Polen ein. Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen... um 4 Uhr 45. Seitdem haben Bomben, Kanonen und Granaten das Wort und lehren die Menschen das Fürchten — die Angst ums Überleben — dort, in Polen. Aber Polen ist gar nicht so weit weg! Sind sie also nicht lächerlich, diese drei Menschen in dem trostlosen Hotelzimmer in Bukarest? Dieses Paar, in flagranti ertappt, und der Hahnrei, der bedeppert davor steht, als schäme er sich, gestört zu haben? Die junge Frau hat schnell ihren nackten Körper mit

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