Der 1. Mord - Roman
könnte.
Die Überprüfung der Gäste im dreißigsten Stock war nur wenig erfolgreicher. Einem Paar aus Chicago war ein Mann aufgefallen, der in der Nähe der Mandarin Suite auf dem Korridor herumgestanden hatte. Sie beschrieben ihn als mittelgroß, mit kurzem schwarzen Haar. Er hatte einen dunklen Anzug oder vielleicht einen Smoking getragen und einen Karton, vielleicht mit alkoholischen Getränken, in der Hand gehalten.
Später bezeugten zwei gebrauchte Teebeutel und die angebrochene Packung Maaloxan auf dem Tisch deutlich, dass wir uns mit diesen Fragen schon seit etlichen Stunden herumschlugen. Es war Viertel nach sieben. Dienstschluss war um fünf Uhr nachmittags gewesen.
»Keine Verabredung heute, Lindsay?«, fragte Jacobi schließlich.
»Ich habe mehr Verabredungen, als ich brauche, Warren.«
»Stimmt, wie ich schon sagte: Heute Abend keine.«
Ohne anzuklopfen steckte unser Lieutenant, Sam Roth, den Kopf herein. Wir nannten ihn ›Cheery‹, Frohnatur. Er warf die Nachmittagsausgabe des Chronicle auf den Tisch. »Haben Sie das schon gesehen?«
Die fette Schlagzeile lautete: HOCHZEITSNACHTS-MAS-SAKER IM HYATT. Ich las den Artikel laut vor. »Vor einer atemberaubenden Aussicht auf die Bay, in einer Welt, die nur die Reichen kennen, lag der Leichnam des neunundzwanzigjährigen Bräutigams zusammengekrümmt neben der Tür.« Roth runzelte die Stirn. »Haben wir diese Reporterin vielleicht zu
einer Privatbesichtigung des Tatorts eingeladen? Sie kennt die Namen und Örtlichkeiten genau.«
Gezeichnet war der Artikel mit Cindy Thomas . Ich dachte an die Karte in meiner Handtasche. Cindy Thomas . »Vielleicht sollte ich anrufen und sie fragen, ob wir irgendwelche Hinweise haben«, fuhr Roth sarkastisch fort.
»Wollen Sie nicht hereinkommen?«, fragte ich. »Schauen Sie auf die Tafel. Wir könnten Hilfe gebrauchen.«
Roth stand nur da und kaute auf seiner dicken Unterlippe. Er wollte schon die Tür schließen, besann sich dann jedoch. »Lindsay, kommen Sie morgen früh Viertel vor neun in mein Büro. Wir müssen diese Sache sorgfältig angehen. Fürs Erste ist es Ihr Fall.« Dann machte er die Tür zu.
Ich lehnte mich zurück. Eine schwere Last schien mich in den Boden zu drücken. Der ganze Tag war vorbei. Ich hatte nicht einen einzigen freien Moment gehabt, um über meine Probleme nachzudenken.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Jacobi.
Ich schaute ihn an. Ich war kurz davor, alles zu erzählen, vielleicht noch mal zu weinen.
»Das war ein ziemlich heftiger Tatort«, sagte er an der Tür. »Sie sollten nach Hause gehen und ein Bad nehmen oder so.«
Ich lächelte ihn an und war für seine plötzliche Sensibilität dankbar, die ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten stand.
Nachdem er gegangen war, starrte ich die leeren Spalten auf der Tafel an. Ich fühlte mich so schwach und leer, dass ich kaum aufstehen konnte. Langsam stiegen die Ereignisse dieses Tages, mein Gespräch mit Orenthaler, wieder vor meinem geistigen Auge auf. In meinem Kopf schwirrte seine Warnung herum: »Tödlich, Lindsay.«
Dann traf mich die niederschmetternde Erkenntnis wie ein Blitz. Es war fast zwanzig Uhr, und ich hatte Orenthalers Spezialisten nicht angerufen.
11
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, beherzigte ich Jacobis gut gemeinten Rat.
Zuerst ging ich mit meinem Hund Sweet Martha spazieren. Tagsüber kümmern sich zwei Nachbarn um Martha, aber abends wartet sie immer sehnsüchtig auf unseren Spaziergang. Danach streifte ich meine Schuhe ab, warf meine Waffe und die Kleider aufs Bett und duschte lange und heiß. Ein Killians hatte ich mitgenommen.
Das Bild von David und Melanie Brandt verblasste für heute Abend. Sie konnten schlafen. Doch da waren immer noch Orenthaler und die Anämie. Und der Anruf bei dem Hämatologen, vor dem ich mich den ganzen Tag über gefürchtet hatte und den ich nie gemacht hatte.
Wie oft ich auch das Gesicht in den heißen Strahl hob, ich konnte den langen Tag nicht wegspülen. Mein Leben hatte sich verändert. Ich kämpfte nicht mehr nur gegen Mörder auf den Straßen, sondern um mein Leben.
Nach der Dusche bürstete ich mein Haar und betrachtete mich lange im Spiegel. Mir kam ein Gedanke, der mir selten kam: Ich war hübsch. Keine Schönheit, aber hübsch. Groß, einsfünfundsiebzig, gute Figur für jemanden, der ab und zu wahre Torten-, Eis- oder Bierorgien feierte. Ich hatte lebhafte, strahlende braune Augen. Ich gab nie klein bei.
Wie konnte es sein, dass ich sterben
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