Der 26. Stock
er dort gewartet, den Blick ins Leere gerichtet,
und ihr Zeit gelassen, ein paar Minuten mit Carlos allein zu sein. Sie fragte sich, ob Carlos Zac wohl etwas über sie erzählt
hatte. Eines Tages würde sie ihn selbst fragen.
Im Stationszimmer fragte sie eine Schwester nach Rasierschaum und Einwegrasierern. Sie ging zurück ins Zimmer und stellte
eine Schale mit lauwarmem Wasser auf das Schränkchen, das sich neben dem Bett befand. Dann schüttelte sie die Flasche, die
man ihr gegeben hatte, und sprühte sich klebrigen weißenSchaum auf die Handfläche. Vorsichtig schob sie die Schläuche des Beatmungsgeräts zur Seite und verteilte den Rasierschaum
in der unteren Gesichtshälfte. Die Klinge glitt sanft über Carlos’ Wangen und entfernte den dichten Bart, der in den Tagen
seines Krankenhausaufenthalts gewuchert war. Als die erste Wange ganz glatt rasiert war und die Bartstoppeln zusammen mit
den Schaumresten in der Wasserschale verschwanden, fuhr Isabel mit dem Zeigefinger Carlos’ Wangenknochen. Sie war sicher:
Wenn er jetzt etwas spürte, so konnte das nur ein angenehmes Gefühl sein. Nachdem sie ihr Werk vollendet hatte, betrachtete
sie Carlos und erkannte in ihm den jungen Mann wieder, dem sie erst vor so kurzer Zeit in der Tankstelle wiederbegegnet war.
Sie trocknete sein Gesicht ab, schob die Schläuche wieder an die richtige Stelle. Dann ging sie zu Zac, der noch so dastand
wie zuvor.
»Der Nebel kommt zurück«, sagte er, als er Isabel hörte. Sie trat neben ihn und beobachtete durch die Fensterscheibe hindurch,
wie die Nebelschwaden über die Stadt zogen. Die oberen Stockwerke der Hochhäuser waren schon nicht mehr zu sehen. »Carlos
hat immer gesagt, zu jedem Wetter würde auch ein bestimmtes Gefühl gehören. Freude zum Beispiel käme mit den Frühlingsnächten.
Dann ist es warm genug, dass man sich im T-Shirt mit einem Kumpel auf eine Parkbank setzt und über Gott und die Welt redet, und doch noch nicht so heiß, dass man nicht schlafen
kann. Nebeltage mochte Carlos auch, weil sie so eine angenehme Melancholie mit sich bringen.«
Isabel starrte Zac an.
»Was ist los?«, fragte er.
»Warum sagst du, dass er Nebeltage ›mochte‹«, mahnte sie ihn ernst. »Wenn schon alles vorbei wäre, was mit ihm zu tun hat,
müssten wir jetzt nicht hier sein.«
»Du hast recht. Mir war das gar nicht aufgefallen. Tut mir leid … Man sieht hier nicht mal ’nen Stern.«
Isabel folgte Zacs Handbewegung zum oberen Teil des Fensters. Es stimmte. Der Nebel lag wie eine Glocke über Madrid undverdeckte selbst den blassen zunehmenden Mond. Isabels Gedanken wanderten zu Teo, der vielleicht in just diesem Augenblick
aus dem Fenster seines kleinen Zimmers sah und denselben Mond suchte.
»Ich muss meinen Bruder anrufen«, sagte sie und zog das Handy aus der Tasche. »Ich habe einen kleinen Bruder.«
»Ja, ich weiß. Teo, oder?« Isabel nickte, und Zac nahm einen kleinen Stapel Zeitschriften von dem wackligen Plastiktisch im
Wartezimmer. »Carlos hat mir von ihm erzählt. Er hat gesagt, so wie du über ihn redest, muss er ein ganz fröhlicher Junge
sein.«
»Ja, das ist er«, antwortete Isabel und wählte die Nummer von zu Hause, während Zac in Carlos’ Zimmer zurückkehrte. Beim siebten
Klingeln wurde die Verbindung abgebrochen. Sie versuchte es noch einmal, und dasselbe geschah. Bestimmt war ihr Bruder eingeschlafen,
oder vielleicht lag er in der Badewanne, obwohl sie ihm doch immer einschärfte, nur zu baden, wenn sie zu Hause war. Vielleicht
war er noch wütend über den Sturz im Aufzug und hatte keine Lust, ans Telefon zu gehen. Nach dem dritten Versuch probierte
Isabel es auf seinem Mobiltelefon. Einige Sekunden lang kam nichts, dann meldete sich die Mailbox.
»Teo, ich bin zu Carlos ins Krankenhaus gefahren«, sagte Isabel nach dem Signalton. »Ich komme gleich nach Hause. Ich hab
dich lieb.« Sie hielt kurz inne. »Ruf mich an, wenn du das hörst, ja? Damit ich weiß, dass es dir gut geht.«
Sie legte auf und kehrte in Carlos’ Zimmer zurück. Sie spürte, wie sie unruhig wurde. Warum ging Teo nicht ans Telefon? Zac
hatte inzwischen in einem der Sessel Platz genommen und las in einer Zeitschrift.
»Mein Bruder geht nicht ans Telefon«, sagte Isabel entschuldigend. »Ich glaube, ich sollte dann besser …«
»Geh nur, mach dir keine Gedanken«, sagte Zac und zeigte auf den Stapel Zeitschriften am Boden »Ich weiß nicht, ob mich das
Zeug die ganze
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