Der 26. Stock
gar
nicht erst lesen, die Details waren ihr egal, da verließ sie sich ganz auf Rais Urteil. Ein Blick genügte, um ihre Befürchtungen
zu bestätigen. Rai war auf die schmutzigen Machenschaften ihrer neuen Firma gestoßen. Noch vor dem Umzug nach Barcelona hatten
sie, nachdem Rai einen Teil der Geschichte erfahren hatte, einen Entschluss gefasst. Sie würden nicht zweimal den gleichen
Fehler begehen. Sie würden sich eingehend über die neue Firma informieren, welche es auch sein mochte, und ihre Konsequenzen
daraus ziehen. Vielleicht würden sie die Zustände dort nicht ändern können, aber sie würden auch nicht daran mitwirken, dass
alles noch schlimmer wurde. Cass klappte die Mappe wieder zu. Nachts ruhig zu schlafen, war es wert, sich einen neuen Job
zu suchen.
Aus dem kleinen Abstellraum holte sie sich einen großen Karton und begann, die wenigen Gegenstände einzupacken, die sie in
den vergangenen Wochen hatte ansammeln können. Dann nahm sie die Postkarte vom Sims und legte sie behutsam obenauf. Sie zog
den Mantel an, nahm ihre Handtasche und verließ mit dem Karton unterm Arm das Büro. Sie drehte sich nicht mehr um. Rai wartete
in seinem Büro auf sie; auch er hatte seine Sachen gepackt. Sie waren bereit, das Weite zu suchen. Ihre Kündigung würden sie
auf dem Postweg nachreichen.
Sie gingen den Gang hinunter. Als sich die Aufzugtür öffnete und eine ältere Frau mit weißen Haaren ihnen entgegensah, fragte
Cass sich einmal mehr, warum es wohl Fahrstuhlführer gab. Aber es kümmerte sie nicht weiter, es ging sie nichts an, so wenig
wie alles andere, was mit dieser Firma zusammenhing. Fünf Minuten später hielten Rai und Cassandra nach einem Taxi Ausschau,
das sie in die Zukunft fahren würde, die sie sich gerade zurückgeholt hatten.
Der Abbruch und die Aufräumarbeiten des Gebäudes nahmen mehrere Monate in Anspruch. In der Zwischenzeit analysierten Spezialisten den Hergang
des Großbrands. Im ganzen Hochhaus wurde keine einzige Leiche geborgen. Wenn es Tote gegeben hatte, so hatte jemand sie verschwinden
lassen. Doch an einem heißen Vormittag Mitte Juli fiel einem der Arbeiter ein kleiner Gegenstand in die Hände: eine einfache
Videokamera. Die Kamera selbst war defekt, aber das Band darin schien in hervorragendem Zustand zu sein. Der Arbeiter übergab
es seinem Vorarbeiter, und der schickte das Material an die Ermittler weiter. Manche behaupten, es habe niemals sein Ziel
erreicht, andere wiederum sagen, es liege ganz hinten in einer Schublade irgendwo im Ministerium, wo niemand es jemals finden
wird. Andere schließlich glauben, dass es dieses Band nie gegeben hat. So ließ sich nur darüber spekulieren, was in dem Bürourm
vorgefallen sein mochte. Oder vielleicht tatsächlich vorgefallen war …
Informationen zum Buch
In einer kalten Februarnacht füllt sich der Himmel über Madrid mit Rauch: Die Zentrale eines internationalen Großkonzerns
brennt lichterloh. Die Feuerwehr kann nichts gegen das Flammeninferno ausrichten, der Wolkenkratzer wird komplett evakuiert.
Trotzdem entdecken Schaulustige im 26. Srock menschliche Schatten – aber in den Tagen darauf wird keine Leiche gefunden und auch niemand vermisst.
Isabel Alvarado ist Personalverantwortliche in der Abteilung Human Resources der Holding. Wochen vor der unheilvollen Brandnacht
wird die 3 0-Jährige durch seltsame Vorkommnisse plötzlich hellhörig: Ihr Vorgesetzter verschwindet spurlos; ein neues Zutrittskontrollsystem
wird über Nacht installiert; ihr geistig behinderter Bruder Teo, der in dem Büroturm als Reinigungskraft arbeitet, erlebt
im Lift einen haarsträubenden Albtraum; Kollegen werden befördert, um dann ebenfalls spurlos zu verschwinden; und dann taucht
auch noch ein eigenartiges Video auf …
Informationen zum Autor
Enrique Cortés
, geboren 1980 in Zamora, hat in Madrid Jura studiert und arbeitet gegenwärtig als Dozent für spanische Sprache und Literatur
in Andalusien. ›Der 26. Stock‹ ist sein erster Thriller. Cortés hatte die ersten hundert Seiten des Romans, der mit einem Brand enden sollte, bereits
geschrieben, als er im Februar 2005 Zeuge wurde, wie der Büroturm »Windsor« im Madrider Finanzzentrum in Flammen aufging …
Derzeit schreibt er an seinem zweiten Thriller.
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