Der 26. Stock
sie verändert.
Cassandra setzte sich auf die Schreibtischkante. Auch sie war nicht mehr dieselbe. Nach allem, was passiert war, hatten Vera
und sie beschlossen, in eine andere Stadt zu ziehen. Sie hätten in denselben Straßen und Häusern wohnen bleiben können, hättenden Anblick der Ruinen in der Ferne ertragen können, die nach und nach abgerissen wurden. Aber sie wollten nicht. Sie hatten
keinen Grund dazu. Also beschlossen sie, mutig zu sein und einander bei dem Neuanfang zu unterstützen, weit weg, doch nicht
so weit, dass sie nicht noch ihre in Madrid verbliebenen Freunde hätten besuchen können. Cass hatte bei einer anderen internationalen
Firma einen Job gefunden, Vera hatte sich dafür entschieden, sich selbstständig zu machen.
»Kann sein, dass es am Anfang hart wird oder ich Geld zuschießen muss, aber wenigstens werde ich genau wissen, an welchen
Geschäften ich beteiligt bin«, hatte sie ihrer Freundin erklärt.
Cassandra konnte das gut nachvollziehen. Kein Babygeschrei hatte sie mehr geweckt, und sie wünschte sich, dass das so blieb.
Darum hatte sie sich auch eingehend über die Geschäftsfelder ihrer neuen Firma informiert. Sie wollte wissen, für wen sie
tätig war. Aber nicht nur in diesem Punkt hatte sich ihr Leben verändert. An einem verregneten Aprilabend in Madrid hatte
sie auf dem Heimweg beschlossen, für immer Abschied von ihrem Sohn zu nehmen. Am nächsten Tag begann sie, die nötigen Unterlagen
für eine Adoption zusammenzutragen. Sie würde ihren Sohn nie vergessen, sie würde ihn immer lieben, aber die Jahre der Einsamkeit
hatten nun lange genug gedauert. Allein zu bleiben, das hatte sie nicht verdient. Ihr Mann zeigte sich von der Entscheidung
überrascht. Er hatte Kontakt aufgenommen, als er von dem Brand erfahren hatte. Cassandra bat Vera, mit ihm zu sprechen und
ihm zu versichern, dass es ihr gut gehe. Er rief noch einige Male an, bis Cass allmählich wieder in der Lage war, Stimmen
am anderen Ende der Leitung zu hören. Die Vorstellung einer Adoption gefiel ihm. Sehr sogar. Sie vereinbarten, dass er sie
bald in Barcelona besuchen würde. Cass war überrascht festzustellen, dass sie das Treffen herbeisehnte. Sie lächelte. Seit
jenen Februartagen hatte sich eine Menge geändert. Auf der anderen Seite des Schreibtischs klingelte das Telefon. Die Möwen
waren inzwischen verschwunden.
»Ja?«
»Cass, ich bin’s.« Sie lächelte erneut. Noch immer war es ein seltsames Gefühl, etwas so Alltägliches zu tun wie den Hörer
abzunehmen. »Störe ich? Ich würde gerne vorbeikommen und dir etwas erzählen.«
»Nein, komm nur.«
Damit legte sie auf. Vera hatte recht, er war kein übler Kerl. Er hatte seine Eigenarten und war nicht immer nett zu anderen.
Er war arrogant, oft herablassend, aber als sie ihn wirklich gebraucht hatten, hatte er sie nicht im Stich gelassen. Das war
nicht selbstverständlich. Als Vera und Cass beschlossen, die Stadt zu verlassen, hatte er sich ihnen angeschlossen. Er hatte
sie um eine Erklärung gebeten und sie bekommen, in groben Zügen. Schließlich hatte er ihnen Unterschlupf gewährt und versucht,
Veras Mann aufzuhalten. Er hatte sein Leben für sie riskiert. Da verdiente er, wenigstens einen Teil der Geschichte zu erfahren.
Jetzt klopfte er an ihre Tür.
»Herein.«
Raimundo Lara steckte den Kopf durch die Tür. Etwas in seinem Gesicht hatte sich in den letzten Monaten entspannt, und manchmal
lächelte er sogar ganz offen. In diesem Moment jedoch nicht. Er drehte sich nochmals um und warf einen Blick in den Gang,
als wollte er sicherstellen, dass niemand ihn eintreten sah. Dann kam er herein und zog die Tür hinter sich zu. Unter dem
Arm trug er einen Aktenordner.
»Was ist?«
Sie waren im selben Unternehmen gelandet, in derselben Abteilung. Etwas in seinem Gesicht sagte ihr, dass es irgendein Problem
gab.
»Also …« Er ging ein paar Schritte auf und ab, sichtlich unentschlossen, wie er beginnen sollte. Schließlich trat er mit finsterem
Gesicht an den Schreibtisch und reichte ihr die Mappe. »Am besten, du siehst dir das mal an. Wenn du fertig bist, komm bei
mir im Büro vorbei.«
Damit drehte er sich um, öffnete die Tür und ging hinaus,nicht ohne ihr vorher einen Blick zuzuwerfen, wie sie ihn noch nie von Rai gesehen hatte. Es tut mir leid, besagte dieser
Blick, es tut mir wirklich leid. Cass ahnte schon, was sie in der Mappe finden würde. Sie wollte die einzelnen Blätter
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