Der 26. Stock
hätte sie sich nicht getraut, doch als sie sah, wie
ein Junge durch die Tür lief, die der Wachmann achtlos offen gelassen hatte, zögerte sie nicht länger und rannte ihm nach,
hinter sich das immer schriller werdende Geschrei des Besoffenen, gemischt mit derStimme des Wachmanns, der mehrere Personen zur Ordnung rief, die es Isabel gleichgetan hatten. Dann hörte sie ein durchdringendes
Pfeifen: Die U-Bahn fuhr ein. Sie stürzte die Treppe hinunter, Richtung Gleise.
Plötzlich fand sie sich im Inneren des stickigen Waggons wieder, zwischen den zusammengedrängten Menschen und der sich schließenden
Tür eingeklemmt. Sie atmete schwer. Ihre Hände umklammerten die Plastiktüte mit Teos Geschenk.
»Nein!«, konnte sie nur noch rufen, als der Zug sich in Bewegung setzte und sie durch die Scheibe sah, wie Alberto Hernán
ihr von einer der Bänke auf dem Bahnsteig aus zunickte. Dann formte er mit den Lippen zwei Silben. Sie brach in Tränen aus.
Die Menschen um sie herum sahen sie einen Moment lang überrascht an, bevor sie peinlich berührt den Blick abwandten. »Hau
ab«, hatte Vera zu ihr gesagt. Und Alberto hatte es nun wiederholt: »Hau ab.«
8
Isabel war in dem U-Bahn -Abteil geblieben, bis sie etwas ruhiger geworden war, und hatte sich dann ein Taxi genommen. Daheim wusch sie sich im Bad
flüchtig das Gesicht, ging in das Zimmer ihres Bruders und ließ sich dort aufs Bett fallen. Noch immer kam ihr alles unwirklich
vor, so als wäre das, was passiert war, nur ein Traum. So seltsame Dinge geschahen vielleicht im Kino, aber doch nicht im
wirklichen Leben, wo die Menschen ein langweiliges, dafür aber meist ruhiges Dasein fristeten. Von Müdigkeit überwältigt,
sah sie sich auf einmal mitten in einem heftigen Wirbelsturm. Um sie herum war nichts als eine ausgedehnte Ebene, Brachland
mit verdorrten Büschen. Sie sah sich um. Nach allen Richtungen hin war sie von einer kreisförmigen Absperrung umgeben, über
die Zäune, Kühe und sogar ein Hausdach dahinflogen. Sie spazierte im Auge des Orkans umher, dem paradoxerweise ruhigsten Ort
weit und breit …
Ein langgezogener Piepton ließ sie hochschrecken und im Dunkeln nach dem Wecker tasten, aber wo der Couchtisch hätte stehen
sollen, war nur Luft. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass sie in Teos Zimmer eingeschlafen war. Sie richtete
sich auf, überwand ein Schwindelgefühl und griff nach ihrem Mantel. In einer der Taschen klingelte ihr Handy.
»Ja, bitte?«
Keine Antwort.
»Hallo?«
»Hallo. Störe ich gerade?«
Da erkannte Isabel die Stimme. Er klang heiser, als hätte er eine Erkältung.
»Hugo! Nein, kein Problem.«
»Ich rufe an, weil ich bei Vera vorbeigefahren bin. Eine Nachbarin hat mir erklärt, sie hätte sie mit ihren Töchtern und ein
paar Koffern aus dem Haus gehen und wegfahren sehen. Ich habe sie gefragt, ob sie auch weiß, wohin, aber da hat sie nur die
Achseln gezuckt. Ich habe Vera einen Zettel unter der Tür durchgeschoben, falls sie wiederkommt. Und angerufen habe ich sie
auch, aber sie hat ihr Handy nicht an. Ich mache mir ein bisschen Sorgen, Isabel.«
Vor Isabels geistigem Auge erschien klar und deutlich die Szene in der U-Bahn und zerriss den Nebel des Schlafes. Eigentlich musste sie Hugo davon erzählen, aber in diesem Moment hatte sie nur das dringende
Bedürfnis, das, was im Kaufhaus passiert war, hinter sich zu lassen.
»Glaubst du, wir sollten die Polizei rufen, Hugo?«
Vom anderen Ende der Leitung kam ein heftiger Hustenanfall, gefolgt von einem tiefen Seufzer.
»Ich denke, ich rufe erst einmal Rai an. Wenn er wirklich nicht mehr weiß, müssen wir vielleicht zur Polizei gehen. Keine
Ahnung.«
»Vielen Dank, dass du dich darum kümmerst.«
»Ach, ich tue das auch für mich. Ich bin ziemlich durcheinander. In all den Jahren in unserem Büroturm hat es nie …« Ein neuer Hustenanfall drang durch die Leitung. »Ich glaube, ich habe mich erkältet. Mistwetter. Ich rufe dich an, ja?
Ach, und wünsch morgen deinem Bruder alles Gute von mir.«
Isabel versicherte ihm, dass sie das tun werde, und legte lächelnd auf. Sie fand es toll, dass er immer an Teos Geburtstag
dachte. Sie legte sich wieder hin und schloss die Augen. Hugo erinnerte sie in vielem an Alberto Hernán. Beide waren über
fünfzig, hatten einen leichten Bauchansatz und strahlten etwas Bohemehaftes aus, wie so mancher, der seit den 1970er Jahren
ein abenteuerliches, aber doch zielstrebiges
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