Der 26. Stock
rauschte erhobenen Hauptes in sein Büro.
Isabel raffte ihre Sachen zusammen und verließ so schnell sie konnte den Raum. Alberto Hernán hätte niemals eine diktatorische
Entscheidung gefällt und die Meinungen der anderen missachtet, als seien sie bloße Befehlsempfänger in einer hierarchischen
Kette.
»Isabel, warte.«
Hugo legte ihr die Hand auf die Schulter, als sie schon fast am Aufzug war. Isabel wandte sich um. Sie konnte noch das Gemurmel
der anderen aus dem Besprechungszimmer hören. Die meisten unterhielten sich erfreut über die angekündigte Gehaltserhöhung.
»Tut mir leid, was da passiert ist«, sagte er mitfühlend. »Dieser Idiot hat keinen Schimmer davon, wie man mit Leuten umgeht.
Alberto hätte ihn sich längst vom Hals schaffen sollen. Jetzt müssen wir alle büßen, dass er noch hier ist.«
»Tolle Art, unsere Proteste zu unterdrücken – zwanzig Prozent Gehaltserhöhung«, erklang Cassandras Stimme hinter Hugos Rücken.
Sie kam langsam auf die beiden zu und drückte den Aufzugknopf. Jetzt, da ihr Gesicht nicht mehr hinter den Locken versteckt
war, konnte man ihre Augenringe erkennen. »Ich will dich ja nicht entmutigen, Isabel, aber mit dem Kerl wirst du’s nicht leicht
haben.«
Isabel nickte. Der Lift kam, und Cassandra stieg ein.
»Weißt du … du hättest dich nicht mit ihm streiten sollen.«
Die Aufzugtüren schlossen sich, und Cassandras Blick verschwand hinter dem Metall.
»Hör nicht auf sie«, sagte Hugo. »Sie ist schon seit ein paar Tagen etwas komisch.«
»Ich will jetzt nur noch nach Hause«, entgegnete Isabel niedergeschlagen.
Hugo nickte. Er rief den Lift, und sie fuhren ins Erdgeschoss, wo sie am Ausgang wieder ihre Magnetkarten benutzen mussten,
um durch die Drehkreuze zu kommen. Als Hugo sich in der Tiefgarage von ihr verabschiedete, meinte er noch, er würde versuchen,
mit Alberto Kontakt aufzunehmen.
»Vera zufolge liegt er im Saint-Louis, einem Krankenhaus in Paris«, sagte Isabel, während sie nach ihrem Autoschlüssel kramte.
Hugo schien überrascht. »Vera? Hast du mit ihr gesprochen? Man hat mir gesagt, sie sei verreist.«
Isabel schüttelte den Kopf. »Nein, ich war heute mit ihr Mittag essen. Sie hat mir auch von dem Unfall erzählt. Ich habe versucht,
sie zu beruhigen, aber sie ist aufgesprungen und rausgelaufen. Als ich sie später noch einmal anrufen wollte, ging keiner
ran.«
Hugo stand nachdenklich da. Isabel schwankte, doch dann entschloss sie sich, ihm nichts weiter anzuvertrauen. Wenigstens nicht,
bis sie verstanden hatte, was Veras widersprüchliche Aussagen bedeuteten. Sie wollte ihn nicht unnötig beunruhigen, und außerdem
wollte sie heim.
»Vielleicht wollte sie schnell zu ihm«, sagte Hugo, »tu mir einen Gefallen. Wenn sie dich noch mal anruft, sag ihr, dass ich
gern mit ihr sprechen würde.«
Isabel versprach es Hugo.
»Und mach dir keine Sorgen wegen Rai. Mit etwas Glück kommt Alberto bald wieder, und der kümmert sich dann schon um ihn.«
Sie verabschiedeten sich, und Isabel stieg in den Wagen. Bevor sie jedoch den Motor anließ, öffnete sie noch einmal ihre Arbeitstasche
und holte ein paar zusammengeheftete Blätter heraus. Es war eine der Kopien ihres Berichts. Sie hätte gerne für all diese
Menschen gekämpft. Viele von ihnen waren zu alt, um noch Arbeit zu finden, aber nicht alt genug, um in Frührente gehen zu
können. Jetzt würden sie gehen müssen, mit einer mickrigen Abfindung, die bestenfalls einige Monate reichen würde. Isabel
war deprimiert und hätte am liebsten geheult, aber sogar dazu fühlte sie sich zu erschöpft. Da klopfte eine Hand leicht gegen
das Fahrerfenster, und Isabel zuckte zusammen. Dann sah sie auf der anderen Seite der Scheibe das Lächeln, das ihr so gut
gefiel. Während sie das Fenster herunterließ, hasste sie Rai dafür, dass er es mit seinem Meeting so weit gebracht hatte,
dass ihr die Lust zum Reden vergangen war.
»Wolltest du etwa schon weg?«
»Entschuldige, ich hatte gerade eine sehr unangenehme Besprechung, und da habe ich ganz vergessen, dass du auf mich wartest.«
Carlos runzelte besorgt die Stirn. »Du siehst ganz schön erledigt aus. Ist es wegen des Treffens mit Vera?«
Isabel bekam einen Schrecken, bis ihr einfiel, dass sie ihm selbst davon erzählt hatte.
»Nein, es ist wegen Rai, meinem neuen Chef. Na ja, und Vera … Reden wir ein andermal darüber, okay? Ich möchte jetzt einfach nur noch heim.«
»Klar«, sagte er, ohne
Weitere Kostenlose Bücher