Der 26. Stock
an die Schulter seiner Schwester gelehnt. Bevor er einnickte, murmelte
er noch, wie gerne er doch eine Videokamera hätte, um selbst Filme drehen zu können. Im Fernseher kreischte die blonde Hauptdarstellerin
auf, weil urplötzlich der Vampir aufgetaucht war. Isabel stellte den Ton leiser, damit Teo nicht wieder aufwachte, dann schloss
sie selbst die Augen und stellte sich ihren Bruder vor, ausstaffiert als Filmregisseur. Sie dachte daran, wie glücklich er
mit einer Kamera wäre. Er würde Actionstreifen drehen, mit Helden, die immer wussten, wie ein Problem zu lösen war. Auf einmal
fiel ihr Carlos’ Gesicht ein, als er sich auf dem Parkplatz von ihr verabschiedet hatte. Er ist sehr nett, dachte sie noch,
dann rutschten ihre Gedanken immer häufiger ins Leere ab. Nach und nach nickte auch sie ein. Neben ihr regte sich Teo und
brummte ein paar verschlafene Worte vor sich hin.
»Ich hab dir deine Mappe mitgebracht. Die hast du liegen lassen.«
Isabel fuhr hoch und schlug die Augen auf.
»Welche Mappe?«
Ihr Bruder rührte sich nicht, murmelte nur: »Ich wollt’s dir schon vorher sagen, aber ich hab’s vergessen.«
»Aber welche Mappe, Teo?«
»O Mann, die grüne … die lag in deinem Büro auf dem Boden. Ich hab sie in meinen Rucksack gesteckt.«
Isabel stand auf und deckte ihren Bruder gut zu. Sie konnte sich partout an keine grüne Mappe erinnern. Bevor sie sich angewöhnt
hatte, Dokumente im PC zu archivieren, hatte sie alles in bunten Mappen abgeheftet. Für jedes Thema hatte sie eine eigene
Farbe verwendet. An einige konnte sie sich noch erinnern. Aber grün war nie dabei gewesen. Die Farbe gefiel ihr nicht.
In Teos Zimmer schaltete sie das Licht ein und hob Teos Rucksack vom Boden auf. Zwischen den schmutzigen Arbeitsklamotten
ihres Bruders zog sie eine blassgrüne Mappe hervor. Sie legte sie auf den Schreibtisch und löste die beiden Spanngummis. Diese
Mappe gehörte nicht ihr, den Inhalt allerdings hatte sie schon einmal gesehen. Sie sah die zahlreichen Blätter durch. Schwarzweißkopien
ein und desselben Bildes, Vergrößerungen einer Fotografie. Ein Polizeiwagen, zwei Männer, deren Köpfe vom Bildrand abgeschnitten
waren, davor jemand, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Drum herum lagen Scherben. Hinter den Personen ragte
ein Gebäude auf, allem Anschein nach der Büroturm. Isabel zog das Blatt aus ihrer Hosentasche, das sie Stunden zuvor heimlich
eingesteckt hatte. Sie faltete es vorsichtig auseinander und legte es neben die Kopien: Die Rückscheibe desselben Streifenwagens,
derselbe Winkel, dasselbe Gebäude im Hintergrund. Was hatte das zu bedeuten?
Isabel klappte die Mappe schnell zu und kehrte mit einem Kissen zu ihrem friedlich schlafenden Bruder zurück, der leise Schnarchgeräusche
von sich gab. Sie schaltete den Fernseher aus. Das Sofa war nicht so supergemütlich wie sein Bett, aber Teo würde gut dort
schlafen. Sanft drehte sie ihn um, so dass er in eine bequeme Position kam, den Kopf auf das Kissen gestützt. Dann schaltete
sie das Licht aus und verließ den Raum. Die Tür ließ sie einen Spalt offen, wie er es mochte.
In der Küche spülte sie das Geschirr vom Abendessen und säuberte das Sandwichgerät. Und da war es mit ihrer Selbstbeherrschung
vorbei: Sie grub das Gesicht in die Hände und brach in Tränen aus. Sie weinte bestimmt eine Viertelstunde lang, still vor
sich hin schluchzend, während ihr die Tränen über die Wangen liefen, bevor sie in Teos Zimmer zurückkehren und die grüne Mappe
in die Hand nehmen konnte, die in ihren Fingern zu brennen schien.
Plötzlich hörte sie ein Klingeln und tastete nach ihrem Handy, das irgendwo zwischen den Laken lag. Eine SMS. Meistens bekam sie Werbebotschaften. Nur wenige Leute hatten ihre Mobilfunknummer. Aber diesmal war es anders.
Wiegehtsdir? Dusahstniedergeschlagenaus? Hoffeeswarnicht weilveradirschlechteneuigkeitenüberbrachthat . Wennduwasbrauchstrufmicheinfachanschlafgutundträumwasschönes. Carlos.
Als sie die Nachricht entziffert hatte, fühlte sie sich sofort besser. Carlos war ungeheuer einfühlsam, obwohl er praktisch
nichts von dem wusste, was gerade ablief. Sie warf einen Blick auf die Sendezeit der SMS. Als sie feststellte, dass sie erst wenige Minuten vorher geschickt worden war, bekam sie schreckliche Lust, ihn anzurufen,
auch wenn etwas ihr sagte, dass sie das lieber nicht tun sollte. Nicht aus Angst, ihn zu nachtschlafender Zeit
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