Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
Vom Netzwerk:
zu stören,
     sondern weil sie ihn nicht mit in die Geschichte hineinziehen wollte. Aber sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte,
     und so ertappte sie sich dabei, wie sie doch Carlos’ Nummer wählte. Beim dritten Klingeln hob er ab.
    »Isabel?«
    Im Hintergrund waren zwei Schüsse zu hören.
    »Ja, ich bin’s   … Hallo.«
    »Hallo, warte kurz, ich schalt den Fernseher aus, sonst hör ich nichts.«
    Das Geballer hörte auf, und Carlos’ warme Stimme war erneut zu hören.
    »Entschuldige, ich sehe mir gerade einen alten John-Ford-Film an. Die richtig guten Filme laufen immer so spät. Habe ich dich
     mit meiner SMS geweckt? Sorry, ich   …«
    »Nein, gar nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich war noch wach. Ich habe mir auch einen Film angesehen, mit meinem Bruder. Und
     der ist gerade eingeschlafen.«
    »Ach so, gut. Was habt ihr euch denn angeschaut?«
    »Einen alten Dracula-Streifen. Mit Bela Lugosi.«
    »Mit Bela Lugosi? Das ist ein super Film.«
    »Na ja, ich fand ihn nicht so toll. Der Mann hat einen Blick, da läuft’s mir kalt den Rücken runter. Außerdem kann ich kein
     Blut sehen.«
    »Stell dir vor, das hat mein Onkel nach fünfzehn Jahren als Chirurg auch festgestellt.«
    Isabel musste schmunzeln. »Und was hat er dann gemacht?«
    »Er hat beschlossen, keinen Fuß mehr in ein Krankenhaus zu setzen, und in einer Kleinstadt einen Videoclub eröffnet. Jetzt
     macht er, glaube ich, bei einer buddhistischen Gruppe mit. Er   …«
    Isabel schaltete das Licht aus und streckte sich auf Teos Bett aus, während Carlos ihr weiter von seinem extravaganten Onkel
     und dem Videoclub erzählte. Ihr kam der Gedanke, dass er sich das alles bestimmt nur ausdachte, um sie zum Lachen zu bringen,
     aber das machte nichts. Ihr fielen die lange zurückliegenden Nächte ein, in denen sie sich stundenlang mit ihrem Bruder unterhalten
     hatte, im Stockbett daheim bei den Eltern. Schade, dass sie ihren Gesprächspartner nicht vor sich hatte, um sein Lächeln sehen
     zu können.
    »Carlos   …«
    »Ja?«
    Isabel verstummte. Sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte.
    »Isabel? Ist alles klar?«
    »Nein.«
    Die Antwort fiel sehr direkt aus. Isabel war von ihrer eigenen Offenheit überrascht.
    »Carlos, ich muss mit jemandem reden. Bei mir in der Arbeitsind ein paar ganz seltsame Dinge passiert. Ich habe den Eindruck, dass da irgendwas ganz Übles läuft.«
    »Meinst du das mit deinem Chef? Hat Vera dir erzählt, was passiert ist?«
    »Ja, also, nicht so richtig, ich wurde nicht schlau daraus. Das heißt, eigentlich verstehe ich überhaupt nichts mehr, und
     da geht es nicht nur mir so   …«
    »Also, jetzt wo du’s sagst   …« Carlos sprach langsam, als überlegte er beim Sprechen. »Bei mir in der Abteilung haben sie ebenfalls den Chef ausgetauscht.
     Angeblich soll er vorgestern in angetrunkenem Zustand vor dem Vorstand ausgeflippt sein. Es heißt, dass sie ihn rausgeschmissen
     haben.«
    In Isabels Kopf nahm eine vage Idee allmählich Gestalt an.
    »Hast du ihn gesehen?«
    »Wen? Meinen Chef?«, fragte Carlos. »Ja. Ich bin ihm gestern begegnet, als er seine Sachen zusammengepackt hat. Ich habe versucht,
     ihm zu sagen, wie leid mir das Ganze tut, aber er hat sich nicht mal zu mir umgedreht. Ich glaube, die Kündigung hat ihn völlig
     aus dem Gleichgewicht gebracht. Nachher habe ich ihn noch von weitem in der Tiefgarage gesehen. Da hat er wie ein Wilder gegen
     die Stoßstange seines Autos getreten. Der Mann war seit zwanzig Jahren im Unternehmen.«
    »Weißt du vielleicht, ob ihm eine Beförderung bevorstand?«
    »Wie kommst du denn darauf?«, fragte Carlos überrascht zurück. »Ja, es gibt Gerüchte, dass ihm ein hoher Posten angeboten
     worden war, aber er soll abgelehnt haben.«
    Da begriff Isabel, dass sie ihn ins Vertrauen ziehen musste. Alleine würde sie nie die nötige Distanz aufbringen, um alles
     in Ruhe zu durchdenken. Und außerdem brauchte sie schlicht jemanden, dem sie davon erzählen konnte.
    »Carlos, du musstest heute Morgen doch sicher auch durch die Drehkreuze, oder?«
    »Ja, klar, wir haben auch alle diese I D-Cards bekommen.«
    »Also, mich hätten die Wachleute fast nicht reingelassen. Sie   …«
    Isabel schilderte ihm den Vorfall und erzählte ihm auch von dem Treffen mit Vera, entschied sich allerdings in letzter Sekunde,
     die Begegnung mit Alberto Hernán auszulassen. Das Telefon zitterte ihr in der Hand. Er hörte zu, ohne sie zu unterbrechen.
    »Isabel, ich finde, du

Weitere Kostenlose Bücher