Der 7. Lehrling (German Edition)
zuträfe. Aber um das herauszufinden, könntest Du endlich einmal hereinkommen und Dich setzen. Es spricht sich schlecht so quer durch den Raum.“ Sie stand auf und ging zum Tisch hinüber. „Komm, setz Dich, ich habe uns einen Tee gemacht.“
Amina löste sich aus ihrer Erstarrung, schloss die Tür und ging zum Tisch. Vorsichtig setzte sie sich der alten Hexe gegenüber und griff zur Kanne, um beiden eine Tasse einzuschenken. „Ich sehe, dass Du gut erzogen bist, mein Kind. Das ist schön. Nun denn. Lass uns ein wenig Tee trinken und sehen, was es mit Deiner Begabung auf sich hat.“
Langsam taute Amina auf. Sie erzählte der Hexe in allen Details von den Erfahrungen mit ihrer neuen Begabung. Linnea hörte schweigend zu und stellte nur hier und da eine Zwischenfrage.
Als der Tee alle war, hatte sich Linnea ein ausreichendes Bild verschafft. „Ich denke, dass Korbinian recht hat. Du hast das
Zweite Gesicht
. Nun, es ist noch ganz jung und unbeherrscht. Deshalb warst Du auch am Schluss so erschöpft. Im Übrigen: Es ist keine Strafe.“
Amina schaute die alte Hexe mit offenem Mund an. „Kannst Du ...?“
„Nein, ich kann keine Gedanken lesen“, lachte Linnea. „Es steht Dir nur überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Amina, wir haben viel Arbeit vor uns. Du wirst jeden Morgen nach dem Frühstück zu mir kommen, und dann werden wir den ganzen Tag arbeiten. Korbinian hat es Dir sicher erzählt: Es geht nicht nur darum, das Du diese
Gabe
beherrschen lernst, es geht auch darum, dass Du mit dem
Zweiten Gesicht
möglicherweise bei der Suche nach dem siebten Lehrling mithelfen kannst. Bring Dir also besser etwas zum Mittagessen mit, wir werden keine großen Pausen machen können.“
Sie sah Amina fest in die Augen. „Bist Du bereit dazu? Wenn nicht, können wir uns beiden viel Zeit ersparen. Also, wie entscheidest Du Dich?“
Amina nickte. „Ja, ich bin bereit dazu.“
Linnea sah ihren neuen Lehrling mit einem so herzlichen Lächeln an, dass das letzte bisschen Scheu von Amina wich. „Gut, mein Kind. Dann sehen wir uns morgen früh.“ Mit diesen Worten war Amina entlassen.
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Abends traf Milan Korbinian wie verabredet im Speisesaal. „Du siehst entschieden besser aus als heute Vormittag“, lobte ihn Korbinian. Sie nahmen sich von dem verführerisch duftenden Braten und dem frischen Gemüse. „Komm, wir setzen uns in die Ecke da drüben, da sind wir ungestört.“ Korbinian ging voran.
„Wenn die Geschichte stimmt, die Amina mir erzählt hat, dann können wir von Glück sagen, dass Du überhaupt hier bist.“
Milan setzte seinen Teller ab und nahm Platz, nachdem Korbinian sich niedergelassen hatte. „Naja, es war tatsächlich ein bisschen knapp. Aber wie es scheint, habe ich eine große Portion Glück gehabt. Erst an der Schlucht, dann in der Wolfsfalle. Jedenfalls bin ich jetzt da. Die Heilerin sagt, wenn die Salbe gut wirkt, kann ich übermorgen aufbrechen.“
„Dann wird es sie freuen, wenn Dir noch ein bis zwei Tage mehr Ruhe gegönnt sind. Es sind noch nicht alle Nachzügler da. In etwa drei Tagen wird auch der Letzte eingetroffen sein, und dann werdet ihr Euren Rückstand auf Pferden aufholen. Ich habe Eure Positionen so gewählt, dass keine Lücken entstehen, auch wenn ihr etwas später als die anderen losreitet. Es dürfte Dir aber auch nicht ungelegen kommen, Amina etwas häufiger zu sehen, oder?“
Milan errötete leicht und wehrte ab: „Korbinian, wenn Du denkst, dass da ... also, dass Amina und ich ... also ...“
„Lass gut sein, Milan“, lachte Korbinian, „dazu muss man nicht denken, dazu muss man nur hinsehen!“ Er klopfte seinem Gegenüber auf die breite Schulter. „Jetzt will ich Dich aber nicht länger aufziehen, unser Braten wird sonst kalt. Lass uns in Ruhe aufessen, und dann erkläre ich Dir den Plan.“
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Nach dem Essen und den Erklärungen von Korbinian ging Milan durch das Dorf. Wohl etwas mehr als zufällig führte ihn sein Weg zur Metzgerei. Dort fand er Amina im Kontor. Sie saß über ihren aufgeschlagenen Büchern, aber sie hatte nicht eine einzige Eintragung gemacht.
Als Milan eintrat, wandte sie sich ihm zu und strahlte ihn an. „Setz Dich doch zu mir“, forderte sie ihn auf, „ich muss Dir etwas erzählen.“
Milan wehrte ab. „Nein, lass uns lieber ein wenig spazieren gehen. Draußen ist es sehr schön. Komm, wir gehen zum See hinunter.“ Amina packte das Buch weg und löschte die Lampe. Dann schlenderten sie nebeneinander durch das
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