Der 8. Tag
Blick in ein Studio ersetzt, in dem ein Nachrichtensprecher die Nummer von Tessas Flug nach London wiederholte, der mit einer anfliegenden Maschine kollidiert war, die von Paris gekommen war. Mehr als dreihundert Menschen waren gestorben. Die Wrackteile waren auf offenes Gelände gestürzt, sonst hätte es noch mehr Opfer gegeben. Bis jetzt gab es keine offizielle Erklärung für das Unglück, doch die Spekulationen deuteten zwangsläufig auf die Anflugkontrolle hin und besonders auf die Frage, ob es menschliches Versagen oder ein Computerfehler war.
Auf dem Bildschirm erschien eine Notfalltelefonnummer für Leute, die glaubten, dass Freunde oder Verwandte in einer der beiden Maschinen gewesen sein könnten. Tessa wusste sofort, dass sie auf die bohrende Frage in ihrem Kopf eine Antwort haben musste. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer.
Überraschend schnell meldete sich eine männliche Stimme.
Der Mann sprach nur Deutsch, reichte sie aber schnell an eine Frau weiter, die abgesehen von einem leichten Akzent perfekt Englisch sprach. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich befürchte«, begann Tessa mit zitternder Stimme, »dass eine Freundin von mir in der Maschine nach London war. Ihr Name ist Lambert. Tessa Lambert.«
»Würden Sie mir bitte sagen, wie Ihr Name und Ihre Verbindung zu dem Passagier ist?«
Tessa überlegte fieberhaft. Sie hätte sich denken können, dass man nicht jedem Auskunft gab. Sie wollten einen Namen und eine Adresse haben, einen Nachweis echten Interesses, etwas für ihre Unterlagen. »Ich bin Helen Temple«, erklärte sie. Es war das Erste, was ihr durch den Kopf ging. »Dr. Helen Temple. Miss Lambert ist meine Patientin.« Dann nannte sie Helens Adresse und Telefonnummer in Oxford.
»Einen Moment bitte, Frau Dr. Temple.«
In der Pause, die entstand, konnte Tessa das Klicken einer Computertastatur hören sowie das leise Murmeln von Stimmen, die andere Anrufe beantworteten.
»Dr. Temple?«
»Ja?«
»Wir haben Dr. Lambert auf unserer Liste. Dr. T. Lambert.«
»Ja, das ist sie.« In diesem Moment ging Tessa durch den Kopf, dass es eigentlich ziemlich blödsinnig war, akademische Abschlüsse in zwei so unterschiedlichen Fachrichtungen beide Male mit dem Titel Doktor zu bezeichnen.
»Es tut mir sehr Leid, Dr. Temple, aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir keine Hinweise auf Überlebende haben.«
»Vielen Dank.« Tessa legte geistesabwesend auf, während sie auf den Teppich vor sich starrte. Sie machte einen unsicheren Atemzug. Natürlich bewies ihr Name auf der Passagierliste nichts. Doch plötzlich brauchte sie auch keinen Beweis mehr.
Ihr Blick glitt zurück zum Fernseher, aber die Nachrichtensendung war zu anderen Ereignissen übergegangen. Sie stand auf, nahm die Fernbedienung und stellte den Ton ab, ließ den Kanal aber eingeschaltet für den Fall, dass weitere Berichte über das Unglück folgen würden. Dann widmete sie sich wieder ihrem Computer.
Sie stöhnte auf, als ob sie jemand geschlagen hätte.
Der Text, den sie gelesen hatte, war verschwunden, obwohl sie die Verbindung nicht unterbrochen oder irgendeinen Befehl eingegeben hatte. Stattdessen befanden sich jetzt drei Worte in großen Buchstaben in der Mitte des Bildschirms mit einem Fragezeichen dahinter.
WER BIST DU?
Als sie später darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, sie hätte damals anders handeln sollen. Doch sie war sich nicht sicher, ob das etwas geändert hätte. Mit zum Zerreißen gespannten Muskeln und von Angst diktierter Vorsicht bewegte sie sich wie jemand, der sich mit einem Messer einer Giftschlange nähert, zu dem Computer und zog die Telefonverbindung aus der Dose. Danach drückte sie den Einschaltknopf und die Stromversorgung zu den Batterien wurde unterbrochen. Der Bildschirm war leer.
Sie stand einen Moment da, fröstelte und auf ihrer Haut bildete sich ein feuchter Film. Im Raum war es völlig still. Nur das ferne Summen von Flugzeugen, die in einiger Entfernung starteten und landeten, war schwach durch die Doppelverglasung des Fensters zu vernehmen. Der Fernsehbildschirm flakkerte immer noch geräuschlos. Doch dann bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass etwas geschah. Als sie sich umgedreht hatte, war die Veränderung abgeschlossen. Das Bild des Nachrichtensprechers auf dem Bildschirm war verschwunden und hatte einer schwarzen Fläche Platz gemacht. Genau in der Mitte des Rechtecks standen dieselben drei Worte, die sie auch auf ihrem Computerbildschirm gesehen hatte.
WER
Weitere Kostenlose Bücher