Der 8. Tag
behaupteten, dass es prinzipiell keinen Unterschied zwischen einem menschlichen Bewusstsein und einem digitalen Bewusstsein gab.
Nun, zu guter Letzt musste sie anerkennen, dass diese Unterscheidung, im am wenigsten hilfreichen Sinne des Wortes, rein akademisch war. Es spielte nur eine Rolle, was das Programm tat, nicht, was es war. Und ob in diesem Zusammenhang ›tun‹ etwas anderes bedeutete als ›sein‹, war für sie eine Frage, die in einem Teufelskreis endete.
Ein plötzlicher Ruck, als sich das Taxi nach vorne bewegte, brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Als sie aus dem Fenster sah, bemerkte sie, dass das Taxi in eine lange, breite Straße abgebogen war, die nur spärlich beleuchtet und mit Autos übersät war, doch zumindest floss der Verkehr. Der Fahrer erklärte, sie könnten es noch rechtzeitig schaffen, wenn er sich über ein paar Verkehrsregeln hinwegsetzte, was sie als Anspielung auf ein üppiges Trinkgeld interpretierte. Sie sagte, dass sie es sich etwas kosten lassen würde.
Sie sah, wie sich ein Scheinwerferpaar langsam aus der Reihe von Fahrzeugen löste, die ihnen entgegenkamen, doch sie konnte nicht abschätzen, wie weit sie entfernt waren oder wie viel Raum zwischen den beiden gegenläufigen Fahrzeugkolonnen war. Die nächtliche Dunkelheit und der immer noch herabprasselnde Regen ließen alles außer dem greifbaren Innenraum des Taxis unwirklich erscheinen. Auf einmal begann der Fahrer fließend auf Deutsch zu fluchen, wobei seine Stimme eine Oktave höher klang als vorher, und er riss den Wagen so hart herum, dass sie spürte, wie die Räder unter ihr ins Schleudern gerieten. Wie durch ein Wunder entgingen sie einem Frontalzusammenstoß, denn der entgegenkommende Wagen, der von einem Wahnsinnigen gesteuert sein musste, bremste und fuhr über die Begrenzungslinie zurück, die er überhaupt nicht hätte überschreiten dürfen.
Tessa verfolgte das alles wie im Traum. Der strömende Regen an den Fenstern und die aufblitzenden Lichter um sie herum ließen sie an ein Unterwasserballett denken. Zur gleichen Zeit bereitete sie sich auf den Aufprall vor, von dem sie sicher war, dass er kommen würde, und wünschte, sie hätte den Sicherheitsgurt angelegt.
Als der Aufprall kam, war es wie eine Erlösung. Sie merkte wie der hintere Kotflügel des Wagens mit dem anderen Fahrzeug hinten rechts kollidierte. Der Wagen stabilisierte sich. Als sie auf den Bürgersteig fuhren, wurde sie in die Luft geschleudert, landete dann der Länge nach auf dem Sitz und war unverletzt. Auf einmal stand der Wagen.
Sie setzte sich vorsichtig auf. Aus allen Richtungen kamen Menschen auf den Wagen zugelaufen. Selbst der Verkehr in die andere Richtung war zum Erliegen gekommen. Die Leute stiegen ungeachtet des dichten Regens aus ihren Autos und waren binnen Minuten durchnässt. Der Fahrer des Taxis war auch unverletzt und schrie jedem, der es hören wollte, seine Version des Unfalls ins Gesicht. Gleichzeitig versuchte er die Tür auf ihrer Seite zu öffnen, die sich etwas verklemmt hatte.
Tessa war froh sich den Händen anzuvertrauen, die sich ihr entgegenstreckten. Einen Augenblick später stand sie auf dem Pflaster und schaute auf zwei oder drei weitere Wagen, die ähnlich verkeilt waren, doch es hatte den Anschein, dass niemand ernstlich verletzt war. Sie hatten Glück gehabt.
Doch die Straße war verstopft und es sah aus, als ob es eine Zeit lang noch so bleiben würde. Das Flugzeug würde ohne sie fliegen.
Maria Brandt hatte alle Hoffnung aufgegeben heute Abend noch nach London zu kommen. Ihr Freund Eric, den sie eine Woche lang nicht gesehen hatte, war dort vor zwei Stunden, aus Frankfurt kommend, eingetroffen. Beide arbeiteten sie für die gleiche Fluglinie und sie versuchten ihre Dienste so abzustimmen, dass sie so oft wie möglich auf den gleichen Routen flogen, er als Kopilot, sie als Stewardess; aber es war nicht einfach.
Doch im Großen und Ganzen klappte es nicht schlecht und sie waren so zu einigen Liebesnächten in den romantischsten Städten der Welt gekommen. Sie verbrachten das Wochenende in Paris, aßen am Canale Grande in Venedig zu Abend und erlebten zusammen den Sonnenuntergang am Tadsch Mahal.
Heute Nacht sollte es ein Hotelzimmer abseits der Bayswater Road sein und morgen würden sie in einem kleinen Pub zu Mittag essen, danach vielleicht ein Ausflug den Fluss hinunter, von dem sie gesprochen hatten, als sie das letzte Mal in London waren. Sie musste nicht vor Montag wieder in
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