Der Abgrund
Sie sich keine Sorgen, Web. Ich bin überzeugt, dass Claire Wunder mit Ihnen vollbringt.« Er sah Web mit fragender Miene an.
So ist es, Doc, hätte Web am liebsten gesagt. Diese Frau vollbringt solche Wunder, dass sie mich in den Wahnsinn treibt.
Web hielt Debbie die Tür auf, dann gingen sie gemeinsam zum Aufzug. Sie vermied es, ihn anzusehen, und Web spürte, wie sein Gesicht rot wurde. Vor Wut, aus Verlegenheit - er wusste nicht genau, aus welchem Grund.
Schließlich sagte er: »Ich komme hierher, um die ganze Tragödie irgendwie zu verarbeiten. Ich schätze, das Gleiche gilt für dich.«
Sie putzte sich die Nase und sah ihm endlich in die Augen. »Ich bin schon seit über einem Jahr bei Dr. O'Bannon in Behandlung, Web.«
Wieder starrte er sie verdutzt an und hörte nicht einmal, wie sich die Tür des Aufzugs öffnete.
»Fährst du nach unten?«, wollte Debbie wissen.
Sie traten auf die Straße und wollten gerade in unterschiedliche Richtungen davongehen, als Web seine Verwirrung überwand und sie fragte: »Hättest du Zeit für einen Kaffee, Deb?« Er war sich absolut sicher, dass sie für jemanden wie ihn keine Zeit haben würde.
»An der Ecke gibt es ein Starbucks. Ich kenn mich in dieser Gegend recht gut aus.«
Sie saßen mit ihren Kaffeetassen in einem abgeschiedenen Winkel, während glänzende Maschinen im Dienst der durstigen
Kunden surrten, schlürften und röchelten.
»Seit über einem Jahr, sagst du? So lange gehst du schon zu einem Seelenklempner?«
Debbie rührte die Prise Zimt in ihren Kaffee.
»Manche Menschen sind ihr ganzes Leben lang in Therapie, Web.«
»Ja, andere Menschen. Aber nicht Menschen wie du.«
Sie sah ihn auf ungewöhnliche Weise an, wie sie ihn noch nie zuvor angesehen hatte. »Ich will dir was über Menschen wie mich erzählen, Web. Als Teddy und ich heirateten, war er ein normaler Berufssoldat. Ich wusste, was ich zu erwarten hatte: Einsätze in fremden Ländern, in denen niemand unsere Sprache spricht, oder in der sumpfigen Einöde der USA, wo man hundert Meilen fahren muss, wenn man ins Kino gehen möchte. Aber ich habe Teddy geliebt und alles mitgemacht. Dann ging er zu den Deltas. Unsere Kinder kamen auf die Welt, und während wir endlich einen festen Wohnsitz hatten, war Teddy so gut wie nie zu Hause. Die Hälfte der Zeit wusste ich nicht einmal, wo er war. Ob er überhaupt noch lebte. Ich würde es aus der Zeitung erfahren oder auf CNN sehen, genauso wie alle anderen auch. Aber auch diese Zeit haben wir überstanden. Dann ging er zur Geiselrettung, und ich glaubte, dass es jetzt besser werden würde. Mein Gott, niemand hatte mir gesagt, dass das HRT noch verrückter als die Delta Force ist, Web, oder dass mein Ehemann noch seltener zu Hause sein würde als zuvor. Ich hätte damit leben können, wenn ich zwanzig und kinderlos gewesen wäre. Aber ich bin keine zwanzig mehr, Web. Und ich habe drei Kinder, die ich praktisch allein aufgezogen habe, mit Teddys Gehalt, das nach all den Jahren, die er seinem verdammten Vaterland gedient hat, ungefähr genauso hoch wie bei einem Kassierer im Supermarkt war. Ich war jeden Tag für meine Kinder da, und meine Kleinste wollte ständig wissen, warum Daddy schon wieder fort ist. Warum kommt Daddy nicht nach Hause? Und darauf konnte ich ihr beim bestem Willen keine vernünftige Antwort geben.«
»Er starb im Kampf für eine gute Sache, Deb.«
Sie schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass sich sämtliche kaffeeschlürfenden Kunden gleichzeitig zu ihr umdrehten. »Erspar mir dieses beschissene Gesülze!« Es kostete sie beinahe übermenschliche Anstrengungen, sich wieder zusammenzureißen.
Auf Web machte diese Frau den Eindruck eines ausbrechenden Vulkans, der verzweifelt versuchte, seine Lava zurückzuhalten.
»Er hat seine Wahl getroffen«, sagte sie. »Er wollte bei seinen Kumpels, seinen Waffen und seinen Abenteuern bleiben.« Ihre Stimme wurde wieder ruhiger und trauriger. »Er hat euch geliebt. Er hat dich geliebt, Web. Mein Gott, du weißt gar nicht, wie viel du ihm bedeutet hast! Viel mehr als ich oder seine Kinder, weil er uns nicht halb so gut kannte wie dich. Ihr habt gemeinsam gekämpft, ihr habt euch gegenseitig das Leben gerettet, jeden Tag habt ihr euch der Gefahr gestellt, und ihr wart gut genug, sie zu überstehen. Als Team. Das beste Team, das es jemals gab. Mit euch hat er über Dinge geredet, die er in meiner Gegenwart niemals angesprochen hätte. An seinem eigentlichen Leben konnte ich nie
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