Der Abgrund
zarten Fingern über die vernarbte, raue Haut, und Web ließ es geschehen.
»Wir alle wissen, welchen Preis du gezahlt hast, Web.«
»Jetzt habe ich fast das Gefühl, als hätte es sich gelohnt.«
KAPITEL 23
Toona ließ sich zurück auf den Fahrersitz fallen und schloss die Tür. Er streckte seinen langen Arm nach hinten und gab den Umschlag an Francis weiter, der im Fond des pechschwarzen Lincoln Navigator saß. Macy hatte auf der mittleren Sitzbank Platz genommen. Er trug eine Sonnenbrille, obwohl die Scheiben des Wagens getönt waren. In seinem Ohr steckte ein Hörer und im Holster eine Pistole. Peebles war nicht bei ihnen.
Francis betrachtete den Umschlag, ohne ihn anzunehmen. »Woher hast du das, Toona? Drück mir nicht irgendwelche Scheiße in die Hand, von der du gar nicht weißt, woher sie stammt. Das habe ich dir schon hundertmal gesagt.«
»Der Brief ist sauber. Er wurde gründlich gecheckt, Boss. Ich weiß nicht, woher er stammt, aber es ist keine Bombe oder etwas in der Art.«
Francis riss Toona den Brief aus den Fingern und sagte ihm, er sollte losfahren. Er hatte den Umschlag kaum berührt, als er auch schon wusste, was er enthielt. Er öffnete ihn und nahm den Ring heraus. Er war klein und aus Gold und hätte nicht einmal auf seinen kleinen Finger gepasst. Aber er hatte genau auf Kevins Mittelfinger gepasst, als Francis ihn für den Jungen gekauft hatte. Auf der Innenseite des Ringes waren ihre Namen eingraviert. Die gesamte Inschrift lautete: FRANCIS UND KEVIN, AUF EWIG.
Francis spürte, wie seine Hände zitterten. Als er aufblickte, sah er, dass Toona ihn aus dem Rückspiegel anstarrte. »Fahr endlich los, Toona, oder du landest mit dem Inhalt meiner Pistole im Kopf auf der nächsten Müllhalde!«
Der Navigator scherte aus der Parklücke und fädelte sich in den Verkehr ein.
Francis widmete sich wieder dem Umschlag und zog behutsam den Brief heraus. Er war in Blockschrift verfasst, wie man es aus Fernsehkrimis kannte. Die Unbekannten, die Kevin in ihrer Gewalt hatten, forderten Francis auf, etwas zu tun, wenn er den Jungen lebend wiedersehen wollte. Und was sie von ihm verlangten, war ziemlich ungewöhnlich. Francis hatte mit einer Geldforderung gerechnet oder dass er sein Territorium ganz oder teilweise aufgeben sollte, und er wäre bereit gewesen, solche Forderungen zu erfüllen. Nach Kevins Befreiung hätte er dann seine Entführer ausfindig gemacht und jeden einzelnen getötet, vielleicht sogar mit bloßen Händen. Aber es gab keine derartigen Forderungen, sodass Francis sehr verwirrt war und sich plötzlich viel größere Sorgen um Kevin machte als zuvor, weil er keine Ahnung hatte, was diese Leute im Schilde führen mochten. Er kannte sämtliche Motive, aus denen jemand zum Dieb oder Mörder wurde, weil er alles aus unmittelbarer Anschauung kannte. Er hatte gedacht, nichts könnte ihn noch überraschen. Und der Inhalt des Briefes deutete darauf hin, dass diese Leute etwas wussten, das auch Francis wusste - eine ganz bestimmte Sache, die mit dem Gebäude zusammenhing, wo die FBI-Agenten erschossen worden waren.
»Woher hast du diesen Brief, Toona?«
Toonas Blick traf sich im Rückspiegel mit seinem.
»Twan hat gesagt, jemand hätte ihn unter der Tür der Geschäftsstelle durchgeschoben.«
Die Geschäftsstelle war ein geräumiges Büro in der Innenstadt, eine der wenigen Adressen, an denen sich Francis des Öfteren aufgehalten hatte. Offiziell gehörte sie zu einer Firma, deren einziger Zweck darin bestand, dem Drogenboss wenigstens ein legales Standbein zu verschaffen, das die Polizei ihm nicht wegnehmen konnte. Er hatte die Räume nett eingerichtet, ein paar Originalkunstwerke von Gettobrüdern aufgehängt, die er bewunderte, und die sich dem nahezu unerfüllbaren Ziel verschrieben hatten, ein ordentliches Leben zu führen. Ja, Francis Westbrook war so etwas wie ein Patron der Künste. Und die Geschäftsstelle war mit maßgefertigtem Mobiliar eingerichtet, großen und stabilen Stücken, in denen er Platz nehmen konnte, ohne sofort etwas kaputtzumachen. Die Adresse des Büros war eins seiner bestgehüteten Geheimnisse, und es war der einzige Ort, an dem er sich wirklich entspannen konnte. Jetzt hatte jemand die Räumlichkeiten ausfindig gemacht, und Francis durfte sich nie wieder dort blicken lassen.
Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in eine Tasche, doch den winzigen Ring behielt er in der Hand, um ihn zu betrachten. Dann zog er ein Foto aus seiner Hemdtasche. Es
Weitere Kostenlose Bücher