Der Abgrund
ich meinen Tagesablauf beibehalte, haben die keinen Grund, mich als Bedrohung anzusehen. Und es gibt da etwas, woran ich wirklich dringend arbeiten muss.«
»Was?«
Sie warf ihm einen Blick zu, und Web hatte sie noch nie so besorgt gesehen. »Ich denke da an einen sehr tapferen Mann, der in eine Gasse geht, einem Jungen zuhört, der etwas ziemlich Außergewöhnliches sagt, und dann seinen Job nicht mehr ausführen kann.«
»Sie können nicht davon ausgehen, dass da ein Zusammenhang besteht.«
Sie hielt ihm eine Seite des Skizzenblocks hin. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es einen Zusammenhang gibt.«
Die Zeichnung war ausdrucksstark, sehr genau und hatte eine unglaubliche Klarheit, die nicht zu einem kleinen Jungen zu passen schien. Eine Gestalt, die Kevin so ähnlich sah, dass es sich um ein Selbstportrait handeln konnte, stand offensichtlich in einer Gasse mit hohen Mauern. Ein Mann in kompletter Kampfausrüstung, bei dem es sich um Web handeln könnte, lief zu dem Jungen. Der Junge hatte die Hand ausgestreckt. Was er in der Hand hielt, ließ Web erstarren.
Das Gerät war klein, man konnte es leicht in der Hosentasche verschwinden lassen. Der Lichtstrahl, den es aussandte, verlief quer über die Seite und endete am Rand. Der Junge schien eine futuristische Waffe in der Hand zu halten, die Lichtstrahlen verschoss, wie bei Star Wars oder Star Trek. In Wirklichkeit war es ein Gerät, mit dem heutzutage alle Menschen, besonders Kinder, vertraut waren. Es war eine Fernbedienung, und diese sendete einen Lichtstrahl aus. Sie hätte zu einem Fernseher, einer Stereoanlage oder zu irgendeinem anderen elektronischen Gerät gehören können. Aber Web wusste, dass dem nicht so war. Er hatte in Kevins Haus nicht mal ein Fernsehgerät gesehen, und in seinem Zimmer stand ganz bestimmt keiner.
Diese Fernbedienung, davon war Web überzeugt, hatte den Laser im Innenhof aktiviert, der wiederum die Maschinengewehre auslöste, als Web und seine Männer herangestürmt kamen.
Der Junge hatte die Initialzündung gegeben. Und jemand musste den Jungen genau auf das vorbereitet haben, was er in jener Nacht sehen würde, nämlich Männer in Schutzausrüstung mit Gewehren. Denn Kevin Westbrook war danach nicht mehr nach Hause gekommen, um dieses Bild zu malen.
Wer war dieser Jemand?
Zwei Wagen hinter Webs Mach saß Francis Westbrook in einem Lincoln Navigator. Er fuhr selbst. Da sie keinen Stoff zu verkaufen hatten, hatte ein Großteil seiner Jungs das sinkende Schiff bereits verlassen. Im Drogengeschäft ließen die Leute nicht gerade das Gras unter ihren Füßen wachsen, und irgendwo anders schien das Gras immer grüner zu sein. Wenn man natürlich erst mal an dem neuen Ort war, war es wieder derselbe Scheiß. Gerissenheit hielt einen am Leben, und die Dummen machten es nicht lange, doch bei jedem getöteten Dealer wartete schon ein Dutzend darauf, seinen Platz einnehmen zu können. Da den Menschen in Francis Westbrooks Welt nicht gerade viele Möglichkeiten offen standen, war die Verlockung des Drogengeschäfts trotz der hohen Sterblichkeitsrate gewaltig. Die Sozialwissenschaftler mit ihren Tabellen und Diagrammen konnte man getrost vergessen, Westbrook hätte in diesem Fachbereich das beste aller Seminare abhalten können.
Als seine Gedanken zu seinem Dilemma zurückkehrten, schüttelte er den Kopf. Peebles war nirgends aufzutreiben, und sogar der ehemals loyale Macy war verschwunden. Den Männern, die ihm noch geblieben waren, vertraute er nicht besonders, und so war er allein losgefahren. Er hatte Jeromes
Haus in der Hoffnung beobachtet, Kevin könne dort auftauchen. Stattdessen war jemand ganz anderes aufgetaucht: HRT London und diese Frau. Sie war die Seelenklempnerin, das zumindest hatte er noch erfahren, bevor seine Jungs ihn im Stich gelassen hatten.
Francis lenkte mit den Fingerspitzen, seine rechte Hand lag auf der Pistole auf dem Beifahrersitz. Er hatte beobachtet, wie London und die Frau hineingingen und dann mit Jerome wieder herauskamen. Die Lady trug Kevins Skizzenblöcke, und Francis fragte sich, warum. Enthielten sie einen Hinweis auf den Aufenthaltsort des Jungen?
Er hatte in der ganzen Stadt nach seinem Sohn gesucht wie nach einer Stecknadel, hatte dabei Leute bedroht, Knochen und ein paar aufgeblähte Egos geknickt, Tausende für Schnüffler ausgegeben, und was hatte es gebracht? Nichts. Das FBI hatte ihn ganz bestimmt nicht; sie trieben keine Spielchen mit ihm, indem sie vielleicht versuchten, Kevin
Weitere Kostenlose Bücher