Der Abgrund
»Noch Fragen?«
Die Anerkennung auf Webs Gesicht war unverkennbar. »Okay, Sie haben mich überzeugt. Sie kennen sich mit Computern aus.«
»Ja, ich habe mir in der Schule den Arsch aufgerissen, um endlich einen Job zu bekommen, bei dem ich kein Haarnetz tragen muss, und die netten Leute vom Sozialamt sagen uns, dass wir zu viel verdienen und aus dem Haus ziehen müssen, in dem wir in den letzten fünf Jahren gewohnt haben.«
»Das System ist mies.«
»Nein, Leute, die nie darauf angewiesen waren, finden es mies. Die darauf angewiesen sind, hätten sonst kein Dach über dem Kopf. Aber es stinkt mir trotzdem ganz gewaltig, dass ich jetzt etwas mehr verdiene als bei dem verdammten Burger King und wir einfach rausgeschmissen werden. Mein Arbeitgeber hat mir ja nun nicht gerade ein dickes Aktienpaket geschenkt.«
»Es ist immerhin ein Anfang, Jerome. Und besser als das hier, und das wissen Sie.«
»Ich werde mich weiter hocharbeiten. Mir den Arsch aufreißen, und dann sind wir hier raus und müssen nie wieder zurück.«
»Sie und ihre Großmutter?«
»Sie hat mich aufgenommen, als meine Mama starb. Hirntumor und keine Krankenversicherung, das ist wirklich keine gute Kombination. Mein Dad hat sich eine 45er in den Mund gesteckt, als er von irgendwas high war. Sie haben verdammt Recht, ich werd mich jetzt um sie kümmern, so wie sie sich um mich gekümmert hat.«
»Und Kevin?«
»Um Kevin kümmer ich mich auch.« Er starrte Web finster an. »Wenn ihr ihn findet.«
»Wir geben unser Bestes. Ich weiß ein wenig über seine Familie. Seine Beziehung zu Big... ich meine, Francis.«
»Er ist Kevins Vater. Na und?«
»Ein wenig mehr als das. Ich habe mich mit Francis eingehend unterhalten. Zu eingehend, um ehrlich zu sein.« Web zeigte auf die noch sichtbaren Verletzungen in seinem Gesicht, die der Mann ihm zugefügt hatte.
Jerome sah ihn neugierig an. »Da haben Sie aber Glück gehabt, dass Sie so glimpflich davongekommen sind.«
»Ja, das Gefühl habe ich allmählich auch. Er erzählte mir, wie Kevin auf diese Welt kam. Mit seiner Mutter und alledem.«
»Stiefmutter.«
»Was?«
»Sie war Francis' Stiefmutter. Sie war meistens völlig weggetreten. Keine Ahnung, was mit seiner richtigen Mutter passiert ist.«
Web atmete erleichtert auf. Es war also kein Inzest. Er sah Claire an. »Sie sind also eigentlich keine Brüder«, sagte sie. »Sie sind Vater und Sohn. Weiß Kevin das?«
»Ich hab's ihm nie erzählt.«
»Aber er glaubt, Francis sei sein Bruder? Wollte Francis das so?«, fragte Claire, während Web sie genau beobachtete.
»Was Francis will, das kriegt er auch. Beantwortet das Ihre Frage?«
»Warum sollte Francis wollen, dass Kevin ihn für seinen Bruder hält?«
»Vielleicht wollte er nicht, dass Kevin erfuhr, dass er seine Stiefmutter vögelte. Sie hieß Roxy. Sie machte viel mit Drogen und so rum, aber sie war gut zu Kevin, bis sie starb.«
»Wie wurde Kevin angeschossen?«, fragte Web.
»Er war mit Francis unterwegs, und sie gerieten in eine Bandenschießerei. Francis brachte ihn hierher; es war das einzige Mal, dass ich diesen Mann hab weinen sehen. Ich brachte ihn ins Krankenhaus, die Cops hätten Francis von der Straße weg verhaftet, wenn er ihn gebracht hätte. Kevin hat nicht geweint, kein einziges Mal, und er blutete wie ein abgestochenes Schwein. Aber danach ist er nie wieder der Alte geworden. Die anderen Kinder hänseln ihn, sagen, er sei behindert.«
»Kinder können grausam sein, und dann werden sie erwachsen und noch viel grausamer. Sie gehen dann nur viel raffinierter vor«, bemerkte Claire.
»Kevin ist nicht blöd. Er ist sogar ziemlich clever. Und er kann zeichnen, Mann. Sie halten es nicht für möglich, wie er zeichnen kann.«
Claire schaute interessiert auf. »Können Sie mir etwas zeigen?«
Jerome sah auf die Uhr. »Ich darf nicht zu spät zur Arbeit kommen. Und ich muss den Bus nehmen.«
»Zu Ihrem großen Cookie-Laden?«, fragte Web.
Zum ersten Mal tauschten Jerome und Web ein Lächeln aus. »Ich sag Ihnen was, Jerome. Sie zeigen uns Kevins Bilder und erzählen uns noch etwas, und dann fahre ich Sie persönlich zur Arbeit, und zwar in einem Wagen, der Ihre Freunde vor Neid erblassen lässt. Was halten Sie davon?«
Jerome führte sie nach oben und einen kurzen Flur entlang in ein sehr kleines Zimmer. Als er das Licht einschaltete, sahen Web und Claire sich erstaunt um. Jeder Quadratzentimeter der Wände und sogar die Decke waren mit Zeichnungen auf Papier bedeckt,
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