Der Abgrund
erfahren hatte, hatte das FBI in Erwägung gezogen, einen Durchsuchungsbefehl für das Gelände der »Freien« zuzustellen, sich dann jedoch entschieden, das HRT zunächst den Ort sichern zu lassen und dann die Durchsuchung vorzunehmen. Das FBI wollte vermeiden, dass ein paar Agenten getötet wurden, während sie versuchten, den Durchsuchungsbefehl zuzustellen. Außerdem war ein Video, das zeigte, wie Maschinengewehre, mit denen später Bundesagenten ermordet worden waren, von einem Lastwagen geladen wurden, den Silas Free gemietet hatte, ziemlich belastend.
Auf dem kurzen, unruhigen Flug in einem Militärjet las Web die fünf Absätze des Einsatzplans, und er und Romano wurden über spezifische Details informiert. Es würde keinerlei Verhandlungen mit den »Freien« geben und keine Aufforderungen, mit erhobenen Händen herauszukommen. Die Erinnerungen an die Vorfälle in der Schule in Richmond und das Massaker am Charlie-Team schlossen diese Optionen aus. Wenn das HRT ohne Vorwarnung zuschlug, würden heute Nacht weniger Leute sterben; zumindest hatten das die Vorgesetzten entschieden, und Web war völlig ihrer Meinung. Die Tatsache, dass es diesmal keine Geiseln gab, vereinfachte alles, komplizierte es andererseits aber auch. Komplizierte es in der Hinsicht, dass Web sich noch immer fragte, warum man für den Einsatz kein SWAT-Team angefordert hatte. Vielleicht hing es ja mit dem Ruf der »Freien« zusammen, äußerst gefährlich und gut bewaffnet zu sein, und damit, dass auch die guten Jungs einmal süße Gerechtigkeit walten lassen sollten. Aber irgendetwas an der Sache kam ihm ganz einfach nicht geheuer vor.
Aufgrund der in den letzten Monaten vom WFO gesammelten Informationen hielten sich die »Freien« in einem Lager auf, das sie vor zehn Jahren etwa vierzig Meilen westlich von Danville, Virginia, errichtet hatten. Es handelte sich um einen sehr entlegenen Teil des Staates, und das Lager war auf drei Seiten von Wäldern umgeben. Bereits vierundzwanzig Stunden zuvor waren die Scharfschützen vom Whiskey- und X-Ray-Team mit Agenten vom WFO dort auf Beobachtungsposten gegangen und hatten weitere wertvolle Informationen sammeln können. Die Pläne vom Zielobjekt befanden sich schon seit geraumer Weile in den HRT-Computern. Das HRT hatte die Innenräume der Schule auf seinem Gelände nachgebaut und übte seitdem dort mit etwas mehr als der üblichen Hingabe und Entschlossenheit, die die Einheit sonst an den Tag legte. Obwohl kein HRT- Angehöriger absichtlich das Feuer eröffnen würde, wenn nicht er selbst, ein Kollege oder ein Unschuldiger in Gefahr war, gab es keinen einzigen im Team, der sich nicht zumindest he imlich wünschte, die »Freien« würden versuchen, Widerstand zu leisten. Vielleicht, dachte Web, war das sogar bei Commander Pritchard der Fall, trotz seiner leidenschaftlichen Rede, die das Gegenteil besagt hatte.
Sie landeten, kletterten in ihre Trucks, die gerade aus einem speziellen Transportflugzeug entladen worden waren, fuhren zu ihrem ersten Sammelplatz und schlossen sich mit der örtlichen Polizei und den Agenten vom WFO kurz, die den Einsatz leiteten. Als plötzlich Percy Bates aus einem der FBI-Wagen stieg und mit Pritchard sprach, drehte Web sich um und fummelte an seiner Ausrüstung herum. Web konnte aus vielerlei Gründen auf einen Zusammenstoß mit Bates verzichten; der wichtigste war wohl, dass er befürchtete, handgreiflich zu werden, weil Bates ihm nichts von dem Angriff erzählt hatte. Bates hatte wahrscheinlich nur versucht, Web zu schützen, vielleicht auch vor sich selbst, doch Web hätte diese Entscheidung gern selbst getroffen.
Sie fuhren zum letzten Sammelpunkt weiter und erhielten ihre endgültigen Befehle. Dann machten sie sich auf den Weg zum Zielobjekt. Sie fuhren schnell über die dunklen Landstraßen. Das Hotel-Team näherte sich in einem Suburban dem Gelände der »Freien« von hinten, während Gulf von links anrückte.
Die Beschaffenheit des Geländes erforderte es, dass sich die Teams dem Ziel durch dunklen, dichten Wald näherten. Das war allerdings kein Problem, denn sie waren mit Nachtsichtgeräten ausgestattet. Bevor sie die Türen des Trucks öffneten, bekreuzigte Romano sich. Web hätte fast das gesagt, was er früher immer zu Danny Garcia gesagt hatte, nämlich, dass Gott sich nicht hierher verirrte und sie auf sich allein gestellt waren, doch er hielt den Mund. Trotzdem wünschte er, Romano hätte sich nicht bekreuzigt. Das alles kam ihm allmählich viel
Weitere Kostenlose Bücher