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Der Abgrund

Titel: Der Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baldacci
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steilen Gelände schien Web einen kleinen Vorsprung vor Gwen herauszuholen. Als sie die Anhöhe erreichten, hielten sie die Pferde an und ließen die Blicke über die Landschaft schweifen, während die Tiere heftig schnauften.
    Gwen sah Web mit einem Ausdruck aufrichtiger Bewunderung an. »Ich bin beeindruckt.«
    »He, ich hatte schließlich eine tolle Lehrerin.«
    »Der Wachturm ist nicht weit entfernt. Von dort ist der Blick sogar noch besser.«
    Web verriet ihr nicht, dass er bereits mit Romano dort oben gewesen war, als sie sich auf dem Anwesen der Ransomes umgeschaut hatten. »Klingt prima.«
    Sie ritten zum Turm, banden die Pferde an einem Holzpfosten fest und ließen sie grasen. Gwen stieg mit Web auf den Turm, und sie verfolgten von dort, wie die Sonne aufging und das Leben im Wald erwachte.
    »Ich glaube, viel schöner als jetzt kann es nicht mehr werden«, meinte Web.
    »Das sollte man meinen«, sagte Gwen.
    Er lehnte sich gegen die halbhohe Mauer und musterte die Frau.
    »Haben Sie und Billy Probleme?«
    »Ist das so offensichtlich?«
    »Ich habe schon Schlimmeres gesehen.«
    »Wirklich? Wie fänden Sie es, wenn ich erwidern würde, dass Sie nicht die geringste Ahnung haben, wovon Sie sprechen, verdammt noch mal?«, fragte sie mit plötzlich aufflammendem Zorn.
    Webs Tonfall blieb ruhig. »Wissen Sie, genau das haben wir noch nie getan. Miteinander geredet.«
    Sie wich seinem Blick aus. »Tatsächlich habe ich mit Ihnen viel mehr gesprochen als mit den meisten anderen Leuten. Dabei kenne ich Sie kaum.«
    »Das war doch harmloses Geplauder, mehr nicht. Und so schwierig ist es auch nicht, mich zu durchschauen.«
    »Noch bin ich mit Ihnen nicht richtig warm geworden, Web.«
    »Nun ja, uns geht allmählich die Zeit aus. Ich glaube nicht, dass unsere Welten sich noch einmal berühren werden. Aber ich vermute, das ist auch ganz gut so.«
    »Möglich«, sagte sie. »Ich glaube, Billy und ich werden nicht mehr lange auf East Winds bleiben.«
    Web sah sie überrascht an. »Ich dachte, das hier wäre Ihr Lebensinhalt? Warum wollen Sie woanders hin? Sie haben sicherlich Ihre Probleme, aber hier sind Sie glücklich. Oder etwa nicht? Das ist doch das Leben, das Sie sich immer gewünscht haben, stimmt's?«
    Sie räusperte sich. »Wenn es um das Erreichen der Glückseligkeit geht, sind daran eine Menge Faktoren beteiligt. Einige mehr als andere.«
    »Ich glaube, in diesem Punkt kann ich Ihnen nicht helfen. Ich bin kein Experte fürs Glücklichsein, Gwen.«
    Sie sah ihn fragend an. »Ich auch nicht.« Einige Sekunden lang schauten sie einander verlegen an.
    »Ich finde, Sie verdienen es, glücklich zu sein, Gwen.«
    »Warum?«, fragte sie schnell. Aus irgendeinem Grund wollte sie tatsächlich seine Erklärung hören.
    »Weil Sie so viel haben durchmachen müssen. Es wäre nur fair - falls überhaupt irgendetwas im Leben fair ist.«
    »Haben Sie gelitten?« In ihren Worten lag ein scharfer Unterton, den sie aber sogleich mit einem mitfühlenden Lächeln kaschierte. Sie wollte hören, dass er gelitten hatte. Aber es würde auf keinen Fall dem auch nur entfernt nahe kommen, was
    sie durchgemacht hatte.
    »Ich habe auch schlechte Zeiten hinter mir. Meine Kindheit war nicht gerade ein amerikanischer Traum. Und meine Zeit als Erwachsener war kaum besser.«
    »Ich habe mich schon immer gefragt, wie Leute zu dem Job kommen, den Sie ausüben. Nämlich die Guten zu sein.« Sie sagte das mit völlig ernster Miene.
    »Was ich tue, tue ich, weil es getan werden muss und weil die meisten Leute es nicht tun können oder wollen. Ich wäre froh, meine Tätigkeit wäre überflüssig, aber dass es dazu kommt, sehe ich nicht.« Er senkte den Blick. »Ich hatte nie Gelegenheit, Ihnen das zu sagen, aber vielleicht bekomme ich keine zweite.« Er atmete tief ein. »Was damals in Richmond geschah, war mein erster Einsatz bei den Leuten, die antreten, um die Geiseln rauszuholen.« Er hielt wieder inne. »Nach Waco stand das FBI regelrecht unter Schock und reagierte in solchen Situationen extrem behutsam und konservativ. Ich will gar nicht entscheiden, ob es falsch oder richtig war, sondern nur, dass es anders war. Wir warten gewöhnlich und verhandeln telefonisch und hören uns geduldig alle Lügen an, die man uns auftischt. Es schien immer, als müsse jemand sterben, ehe sie uns freie Hand geben, und dann ging es meistens nur noch darum, Fehler auszubügeln. Aber das waren die Regeln, und an die mussten wir uns halten.« Er schüttelte den Kopf.

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