Der Abgrund
kurz darüber nach. »Höchstens, wenn Ihr behandelnder Arzt nicht verfügbar wäre und Sie eine akute Krise hätten.«
»Er ist nicht verfügbar und ich stecke in einer Krise, so wahr mir Gott helfe.« Web sagte die Wahrheit, denn er fühlte sich, als wäre er wieder im Hinterhof, als könnte er sich nicht rühren, als wäre er völlig hilflos und nutzlos. Web war sich nicht mehr sicher, ob es ihm gelingen würde, aufzustehen und zu gehen, wenn sie ihn erneut zurückweisen sollte.
Stattdessen führte sie ihn zu ihrer Praxis, ließ ihn eintreten und schloss die Tür. Web sah sich um. Der Unterschied zwischen Claire Daniels' Büro und dem von O'Bannon war frappierend. Die Wände waren nicht grellweiß, sondern mattgrau, und statt der kargen Einrichtung gab es hier feminine Blümchenvorhänge. Überall hingen Bilder, hauptsächlich Porträts, vermutlich von Familienmitgliedern. Die Urkunden an der Wand bestätigten Claires beeindruckende akademische Leistungen: Abschlüsse der Universitäten Brown und Columbia und ein medizinisches Zeugnis von Stanford. Auf einem Tisch stand eine Glasflasche mit dem Etikett »Therapie in der Flasche«. Auf weiteren Tischen befanden sich Kerzen und in zwei Ecken Kaktuslampen. Über Regale und den Fußboden waren mehrere Dutzend Stofftiere verstreut. Vor einer Wand stand ein Ledersessel. Und Claire Daniels hatte tatsächlich eine Couch!
»Möchten Sie, dass ich mich dort setze?« Er zeigte darauf und versuchte angestrengt, seine Nerven unter Kontrolle zu behalten. Plötzlich wünschte er sich, er würde keine Waffe tragen, weil er das Gefühl hatte, allmählich die Selbstbeherrschung zu verlieren.
»Eigentlich sitze ich lieber auf der Couch, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Er ließ sich in den Sessel fallen und sah zu, wie sie ihre Slipper gegen Hausschuhe austauschte, die neben der Couch standen. Der Anblick ihrer nackten Füße löste in Web eine überraschende Reaktion aus. Nichts Sexuelles; er dachte vielmehr an die blutige Haut im Hof, die Überreste des CharlieTeams. Claire setzte sich auf die Couch, nahm Block und Stift vom Tisch und zog die Kappe des Filzschreibers ab. Web atmete ein paar Mal schnell ein und aus, um seine Nerven zu beruhigen.
»O'Bannon macht sich während der Sitzung keine Notizen«, bemerkte er.
»Ich weiß«, erwiderte sie mit einem ironischen Lächeln. »Ich glaube, mein Gedächtnis ist nicht so gut wie seins. Tut mir Leid.«
»Ich habe Sie nicht einmal gefragt, ob Sie auf der Liste der vom FBI anerkannten Psychologen stehen. Ich weiß es nur von O'Bannon.«
»Ich bin ebenfalls anerkannt. Und ich muss Ihre Vorgesetzten von dieser Sitzung in Kenntnis setzen. FBI-Vorschrift.«
»Aber nicht über den Inhalt dieser Sitzung.«
»Nein, natürlich nicht. Nur dass wir miteinander geredet haben. Grundsätzlich gilt in dieser Situation die gleiche Schweigepflicht wie bei normalen Therapiegesprächen.«
»Grundsätzlich?«
»Es gibt einige Besonderheiten. Wegen des außergewöhnlichen Jobs, den Sie machen.«
»O'Bannon hat es mir erklärt, als ich zu ihm kam, aber ich schätze, es ist mir nie so richtig klar geworden.«
»Zum Beispiel bin ich verpflichtet, Ihre Vorgesetzten zu informieren, falls während einer Sitzung etwas offenbart wird, das eine Gefahr für Sie oder andere darstellen könnte.«
»Das klingt vernünftig.«
»Finden Sie? Nun, ich meine, diese Vorschrift ist Ihnen gegenüber nicht besonders fair. Was der eine als harmlos einstuft, stellt für einen anderen möglicherweise eine ernsthafte Gefahr dar. Aber damit Sie's wissen - ich bin noch nie in die Verlegenheit gekommen, Meldung machen zu müssen, und ich arbeite schon seit langem mit Leuten vom FBI, von der DEA und anderen Behörden.«
»Was müssen Sie sonst noch melden?«
»Der zweite wichtige Punkt sind Drogenabhängigkeit und dergleichen.«
»Richtig. Damit nimmt es die Bundespolizei peinlich genau«, sagte Web. »Selbst wenn man Mittel nimmt, die frei verkäuflich sind, muss man es melden. Das kann manchmal ziemlich nervig sein.« Er blickte sich um. »Ihre Praxis ist viel gemütlicher eingerichtet. O'Bannons Büro erinnert mich an einen Operationssaal.«
»Jeder von uns hat seinen individuellen Ansatz.« Sie hielt inne und starrte auf seine Hüftgegend.
Web folgte ihrem Blick und bemerkte, dass sich dort seine Windjacke geöffnet hatte und der Griff seiner Pistole sichtbar war. Er zog den Reißverschluss der Jacke zu, und Claire blickte auf ihren
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