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Der Abgrund

Titel: Der Abgrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baldacci
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nannte, wollte anscheinend eine arische Kultur verwirklichen, und zwar durch ihre individuelle Vorstellung von einer ethnischen Säuberung. Sie waren in die Schule gestürmt und hatten sofort zwei Lehrer getötet. Der folgende Waffenstillstand hatte fast vierundzwanzig Stunden angehalten. Als sich die Anzeichen häuften, dass die Leute wieder ihre Waffen einsetzen würden, griff schließlich die Geiselrettung ein. Alles lief perfekt, bis irgendjemand die »Freie Gesellschaft« informierte, dass die Geiselrettung zuschlagen wollte. Bei der folgenden Schießerei wurden fünf der Neonazis getötet und zwei Geiselretter verletzt. Und Web hatte es besonders schwer erwischt. Und eine weitere Geisel war zu Tode gekommen, ein zehnjähriger Junge namens David Canfield.
    Web wäre es beinahe gelungen, das Kind in Sicherheit zu bringen, als plötzlich das Chaos losbrach. Das Gesicht des toten Jungen hatte Web so häufig in seinen Träumen heimgesucht, dass er freiwillig professionelle Beratung in Anspruch genommen hatte. Zu jener Zeit hatte es noch kein Angestellten- Hilfsprogramm gegeben, also hatte sich Web in aller Diskretion O'Bannons Adresse von einem anderen Agenten besorgt, der bei diesem Psychiater in Behandlung war. Es war eine der schwierigsten Unternehmungen gewesen, die Web je in Angriff genommen hatte, weil er damit in letzter Konsequenz zugab, dass er nicht mehr mit seinen Problemen fertig wurde. Er hatte niemals mit seinen Kollegen von der Geiselrettung darüber gesprochen, und er hätte sich lieber die Zunge ausgerissen, als zu offenbaren, dass er in psychiatrischer Behandlung war. Die anderen hätten es als Schwäche betrachtet, und dafür war in seinem Metier kein Platz.
    Die Mitarbeiter der Geiselrettung hatten ein weiteres Mal mit psychologischen Beratern zu tun gehabt, und in diesem Fall war es ein kompletter Schlag ins Wasser gewesen. Nach dem Waco- Debakel hatte die Bundespolizei mehrere Psychiater geschickt, die sich nicht individuell, sondern mit der gesamten Gruppe der betroffenen Männer getroffen hatten. Das Ergebnis hätte etwas unglaublich Komisches gehabt, wenn der Anlass nicht so tragisch gewesen wäre. Es war das letzte Mal, dass die Behörde etwas probiert hatte.
    Das letzte Mal war Web bei O'Bannon gewesen, als seine Mutter gestorben war. Nach mehreren Sitzungen war er zu der Erkenntnis gelangt, dass sich diese Problematik wohl nie restlos auflösen ließ, worauf er O'Bannon angelogen und behauptet hatte, mit ihm wäre wieder alles in Ordnung. Er machte O'Bannon deswegen keinen Vorwurf, denn kein Arzt konnte dieses Trauma hinbiegen. Dazu wäre schon ein Wunder nötig gewesen.
    O'Bannon war klein und stämmig und trug häufig einen Rollkragenpullover, der sein Mehrfachkinn noch stärker betonte. Web erinnerte sich, dass O'Bannons Händedruck schlaff war, obwohl er sehr freundlich wirkte. Trotzdem wäre Web bei ihrer ersten Begegnung am liebsten sofort wieder zur Tür hinausgerannt. Stattdessen war er O'Bannon in sein Büro gefolgt und hatte sich in äußerst gefährliche Gewässer begeben.
    »Wir werden Ihnen schon helfen, Web. Es braucht nur etwas Zeit. Es tut mir Leid, dass wir uns in einer so schwierigen Situation begegnen, aber die Leute kommen nur selten zu mir, wenn alles bestens ist. Das ist wohl das Schicksal meines Berufsstandes.«
    Web sagte, dass er Verständnis dafür hatte, aber trotzdem verlor er den Mut. Offenkundig hatte O'Bannon kein Wunder in der Tasche, mit dem er Webs Welt wieder in den Normalzustand zurückversetzen konnte.
    Sie hatten im Büro des Psychiaters Platz genommen. Es gab keine Couch, aber ein kleines Sofa, das jedoch nicht lang genug war, um sich darauf auszustrecken. O'Bannon erklärte es als »den größten populären Irrtum, was unseren Beruf betrifft. Nicht jeder Psychiater hat eine Couch.«
    O'Bannons Praxis wirkte steril, mit weißen Wänden, sachlicher Einrichtung und nur sehr wenigen persönlichen Gegenständen. Web fühlte sich hier genauso gemütlich, als würde er in der Todeszelle sitzen und darauf warten, endlich auf dem elektrischen Stuhl Platz nehmen zu dürfen. Sie begannen mit Smalltalk, anscheinend, damit Web lockerer wurde. Neben O'Bannon lagen Block und Kugelschreiber bereit, aber er nahm beides nie zur Hand.
    »Das werde ich später machen«, hatte O'Bannon gesagt, als Web ihn fragte, warum er sich nichts notierte. »Jetzt reden wir einfach nur miteinander.« Seine Augen huschten unruhig hin und her, was Web irritierte, obwohl die Stimme des

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