Der Abgrund
Essen bei den Romanos schaute Web bei Mickey Cortez vorbei und erfuhr von ihm dieselbe Geschichte. Der Junge hatte ihm nichts anderes erzählt. Er wusste nicht, wer der Anzugträger war, der ihn weggebracht hatte. Und keine Schussnarbe in der Wange.
Wer hatte also das Kind ausgetauscht? Und warum?
KAPITEL 11
Fred Watkins stieg aus dem Wagen, nachdem er einen weiteren langen Tag für den Bundesstaatsanwalt gearbeitet hatte. Er brauchte jeden Tag anderthalb Stunden, um von seinem Wohnort im nördlichen Virginia nach Washington zu fahren, und etwa genauso lange für den Rückweg. Neunzig Minuten für gerade mal fünfzehn Kilometer - er schüttelte den Kopf, wenn er darüber nachdachte. Außerdem war sein Arbeitstag noch nicht vorbei. Obwohl er um vier Uhr morgens aufgestanden war und bereits zehn Stunden geackert hatte, erwarteten ihn noch mindestens drei Stunden Arbeit in dem kleinen Büro, das er sich zu Hause eingerichtet hatte. Ein Abendessen und etwas Freizeit mit seiner Frau und den Kindern, dann würde er bis Mitternacht weitermachen.
Watkins war im Department of Justice, dem Justizministerium, in Washington tätig und auf großmaßstäbliche Gaunereien spezialisiert. Seine Arbeit machte ihm Spaß, und er hatte das Gefühl, seinem Land einen wertvollen Dienst zu erweisen. Dafür wurde er einigermaßen angemessen entschädigt, und obwohl er manchmal sehr lange am Schreibtisch saß, war er mit seinem Leben insgesamt sehr zufrieden. Sein Ältester würde im Herbst aufs College gehen, und in zwei Jahren war seine jüngere Tochter dran. Mit seiner Frau hatte er Pläne geschmiedet, anschließend auf Reisen zu gehen, sich Teile der Welt anzusehen, die sie bislang nur aus Reiseprospekten kannten. Außerdem hatte Watkins die Vision, frühzeitig in den Ruhestand zu gehen und als Gastdozent Jura an der University of Virginia zu unterrichten, wo er seinen Abschluss gemacht hatte. Sie dachten sogar daran, eines Tages vielleicht nach Charlottesville zu ziehen, um dem Verkehrsstau zu entfliehen, der im nördlichen Virginia zum Dauerzustand geworden war.
Er massierte sich das Genick und atmete die frische Luft eines netten, kühlen Abends ein. Es waren gute Zukunftspläne; wenigstens hatten er und seine Frau noch Pläne. Einige seiner Kollegen weigerten sich kategorisch, über den morgigen Tag hinaus zu denken, ganz zu schweigen von den nächsten Jahren. Watkins dagegen war schon immer ein praktisch und vernünftig eingestellter Mensch gewesen. So hielt er es mit seiner Arbeit und mit seinem Leben.
Er schloss die Wagentür und lief über den Bürgersteig zu seinem Haus. Er winkte einer Nachbarin zu, die gerade mit ihrem Auto die Zufahrt zu ihrem Haus verließ. Ein anderer Nachbar grillte, und Watkins stieg der köstliche Fleischduft in die Nase. Vielleicht würde er heute Abend ebenfalls seinen Grill anwerfen.
Wie die meisten Menschen in der Umgebung von Washington hatte Watkins die Berichte über den Hinterhalt, in den das Geiselrettungsteam geraten war, mit großem Interesse und voller Besorgnis gelesen. Vor einiger Zeit hatte er mit ein paar dieser Leute an einem Fall gearbeitet, und er konnte nur Gutes über ihre Tapferkeit und Professionalität sagen. Diese Männer waren die Besten, zumindest nach seinen Maßstäben, und sie machten eine Arbeit, die praktisch kein anderer zu übernehmen bereit war. Watkins hatte gedacht, er hätte schon einiges mitgemacht, bis er gesehen hatte, wie hart diese Kerle waren. Es tat ihm besonders Leid um ihre Familien, und er dachte daran, sich zu erkundigen, ob für sie ein Hilfsfond eingerichtet worden war. Wenn nicht, würde er vielleicht selbst einen initiieren. Ein weiterer Punkt auf seiner langen Liste von Dingen, die noch zu erledigen waren, aber so schien es nun einmal im Leben zuzugehen.
Er sah es erst, als es aus den Büschen kam und direkt auf ihn zuraste. Watkins schrie auf und duckte sich. Der Vogel verfehlte ihn um wenige Zentimeter. Es war immer derselbe verdammte Blauhäher. Das Biest schien sich nahezu jeden Abend auf die Lauer zu legen und auf ihn zu warten; es schien gewillt, ihn zu erschrecken und ihm einen vorzeitigen Herzinfarkttod zu bereiten. »Diesmal nicht«, rief Watkins dem davonfliegenden Vogel nach.
»Niemals. Ich werde dich erwischen, bevor es so weit kommt.«
Er lachte leise und betrat die Veranda vor seinem Haus. Als er die Tür öffnete, klingelte sein Handy. Nanu!, dachte er. Nur wenige Menschen hatten seine Nummer. Zum Beispiel seine Frau,
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