Der Abgrund
ihm war keine andere Wahl geblieben, als das Urteil zu unterschreiben. Die Medien hatten die Geschworenen anschließend inoffiziell befragt und festgestellt, dass Free tatsächlich einen guten Handel gemacht hatte. Alle Mitglieder der Jury hätten auf schuldig plädiert und die Todesstrafe empfohlen. Für die Presse war es ein gefundenes Fressen gewesen. Und für alle Verantwortlichen ein Schlag ins Gesicht. Free war aus verschiedenen Gründen in ein Hochsicherheitsgefängnis im Mittelwesten überführt worden. Und von dort war er entflohen.
Leadbetter warf einen Blick auf seine Aktentasche. Darin befand sich, ordentlich zusammengefaltet, ein Exemplar seiner geliebten New York Times. Er war in New York City geboren und auch dort zur Schule gegangen, bevor er nach Richmond gekommen war. Der Yankee liebte seine neue Heimat, aber wenn er nach Hause kam, verbrachte er genau eine halbe Stunde damit, die Times zu lesen. Diese Gewohnheit hatte er während all seiner Jahre als Richter beibehalten, und sein Exemplar wurde ihm extra ins Gericht geliefert, bevor er Feierabend machte. Es war einer der wenigen Momente der Entspannung, die er heutzutage noch genießen konnte.
Als der Marshal den Wagen aus der Garage des Gerichts fuhr, klingelte sein Telefon. »Ja? Wie bitte? Ja, selbstverständlich, Euer Ehren. Ja, ich werde es ihm sagen.« Er legte auf und sagte zu Leadbetter: »Das war Richter Mackey. Er sagte, wenn Sie etwas wirklich Erstaunliches sehen wollen, sollten Sie sich die vorletzte Seite des ersten Teils der Times anschauen.«
»Hat er gesagt, worum es sich handelt?«
»Nein, Euer Ehren. Nur dass Sie nachschauen und ihn dann sofort zurückrufen sollen.«
Leadbetters Neugier war geweckt, und er warf einen Blick auf die Zeitung. Mackey war ein guter Freund und hatte ähnliche Interessen wie Leadbetter. Wenn Mackey etwas erstaunlich fand, reagierte er höchstwahrscheinlich genauso darauf. Der Fahrer hielt an einer Ampel. Das war gut, weil Leadbetter nicht in einem fahrenden Wagen lesen konnte, ohne dass ihm übel wurde. Er holte die Times aus der Aktentasche, aber es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Er schaltete die Leselampe im Wagen ein und schlug die Zeitung auf.
Der Marshal blickte sich verärgert um. »Euer Ehren, ich habe Ihnen schon des Öfteren gesagt, Sie sollen das Licht nicht einschalten. So sitzen Sie praktisch auf dem Präsentierteller...«
Als er Glas zersplittern hörte, fuhr der Marshal zusammen. Und erstarrte, als er sah, wie Richter Louis Leadbetter mit dem Kopf auf seine geliebte New York Times kippte, deren Seiten nun mit seinem Blut besudelt waren.
KAPITEL 12
Kevin Westbrooks Mutter war vermutlich tot, wie Web erfuhr, obwohl es ihm niemand mit absoluter Sicherheit sagen konnte. Sie war vor einigen Jahren spurlos verschwunden. Als Methund Crack-Abhängige hatte sie ihr Leben höchstwahrscheinlich mit einer verschmutzten Nadel oder einer Prise verunreinigten Pulvers beendet. Die Identität von Kevins Vater war unbekannt. Offenbar waren solche Lücken in der Lebensgeschichte nichts Ungewöhnliches in der Welt, in der Kevin Westbrook aufgewachsen war.
Web fuhr in einen Teil von Anacostia, den selbst die Polizei nach Möglichkeit mied, zu einem heruntergekommenen Zweifamilienhaus, in dem Kevin angeblich mit einem Mischmasch aus Vettern zweiten Grades, Großtanten, entfernt verwandten Onkeln oder Stiefschwägern wohnen sollte. Web war nicht ganz klar, in welcher Situation der Junge lebte, und allen anderen anscheinend auch nicht. Es war ein Musterbeispiel der neuen amerikanischen Kleinfamilie. Die Umgebung sah aus, als gäbe es in der Nähe einen seit Jahrzehnten undichten Reaktor. Hier schienen keine Blumen oder Bäume wachsen zu können, das Gras in den kleinen Hinterhöfen war von kränklich gelber Farbe, und sogar die Hunde und Katzen auf der Straßen sahen aus, als würden sie jeden Augenblick tot umfallen. Menschen, Tiere und Dinge schienen kurz vor dem Ende zu stehen.
Im Innern war das Zweifamilienhaus eine Müllhalde. Draußen überwältigte einen der Gestank vergammelnden Abfalls, und drinnen herrschte eine undefinierbare Mischung unangenehmer Gerüche, deren Wirkung durch die Enge noch verstärkt wurden. Als Web diese tödliche Wolke entgegenschlug, hatte er das Gefühl, nach wenigen Schritten zusammenbrechen zu müssen.
Lieber würde er jeden Tag Tränengas inhalieren, als sich dieser hausgemachten Giftatmosphäre auszusetzen.
Die Leute, denen er im Haus begegnete,
Weitere Kostenlose Bücher