Der Abgrund
Marshal.
Dass der Mann, der aus dem Gefängnis ausgebrochen war, ausgerechnet Free hieß, hatte Leadbetter schon immer gewurmt. Ernest B. Free - wie »Ernest sei frei«. Natürlich war er nicht mit diesem Nachnamen und dem »B.« geboren worden, sondern hatte beides offiziell ändern lassen, als er einer paramilitärischen neokonservativen Gruppe beigetreten war, deren Mitglieder diesen Namen als Symbol für die angebliche Gefährdung ihrer Freiheit betrachtet hatten. Ironischerweise nannte sich die Gruppe »Freie Gesellschaft«, während sie mit Intoleranz und Gewalt auf jeden reagierten, der ihre hasserfüllten Überzeugungen nicht teilte. Es war eine jener Organisationen, auf die Amerika problemlos verzichten konnte, und es war gleichzeitig ein Beispiel für die überaus unpopulären Gruppen, die nach dem ersten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten besonderen Schutz genossen. Aber nicht, wenn derartige Gruppen Gewalt einsetzten. Nicht, wenn sie Menschen töteten.
Free und andere Mitglieder seiner Organisation hatten eine Schule überfallen, zwei Lehrerinnen erschossen und zahlreiche Kinder und weitere Lehrer als Geiseln genommen. Die Polizei hatte die Schule umstellt, und ein SWAT-Team wurde angefordert, aber Free und seine Leute waren schwer bewaffnet gewesen, mit automatischen Waffen und Schutzwesten. Also hatte man Einsatzkräfte der Bundespolizei aus Quantico herbeigerufen, die auf Geiselbefreiung spezialisiert waren. Anfangs hatte es ausgesehen, als könnte die Krise friedlich beendet werden, doch dann waren in der Schule wieder Schüsse gefallen, worauf das Geiselrettungsteam das Gebäude gestürmt hatte. Es war zu einer furchtbaren Schießerei gekommen. Leadbetter konnte sich immer noch lebhaft an den herzzerreißenden Anblick eines kleinen Jungen erinnern, der tot auf dem Boden gelegen hatte, neben zwei Lehrerinnen. Der verwundete Ernest B. Free hatte sich schließlich ergeben, nachdem seine Komplizen niedergeschossen worden waren.
Es hatte damals eine Diskussion gegeben, ob Free vor ein Gericht des Staates oder des Bundes gestellt werden sollte. Einerseits herrschte die Überzeugung vor, dass die Schule als Ziel ausgesucht worden war, weil sie als vorbildlich für die Integration ethnischer Gruppen galt, und obwohl Frees rassistische Ansichten allgemein bekannt waren, wären sie ihm schwer nachzuweisen gewesen, wie Leadbetter eingesehen hatte. Immerhin waren die drei Opfer - die beiden Lehrerinnen und der Junge - weiß, und daher war es kein Erfolg versprechender Ansatz, die Anklage auf Rassenhass zu begründen, was in die Zuständigkeit des Bundesrechts gefallen wäre. Free hatte sich zwar des Angriffs gegen Vertreter der Bundespolizei schuldig gemacht, aber am aussichtsreichsten erschien es, die einfache Variante vorzuziehen und ihn vor einem staatlichen Gericht wegen mehrfachen Mordes anzuklagen und die Todesstrafe zu beantragen. Doch dann war der Prozess ganz anders als erwartet ausgegangen.
»Nein, Euer Ehren«, antwortete der Marshal und riss Leadbetter aus seinen Gedanken. Der Polizist war schon seit geraumer Zeit als Leibwächter für den Richter tätig, und sie hatten ein gutes Vertrauensverhältnis entwickelt. »Wenn Sie mich fragen, ich schätze, der Kerl wird sich über Mexiko nach Südamerika absetzen. Da kann er sich mit anderen Nazis zusammentun.«
»Tja, ich hoffe, dass man ihn schnappt und dorthin zurückbringt, wo er hingehört«, sagte Leadbetter.
»Ganz bestimmt. Das FBI kümmert sich darum. Die Leute haben die besten Möglichkeiten.«
»Ich wollte, dass der Mistkerl zum Tode verurteilt wird. Das ist das Einzige, was er verdient hat.« Dieser Punkt gehörte zu den wenigen Dingen, die Leadbetter in seiner Richterkarriere bedauerte. Aber Frees Verteidiger hatte natürlich die Frage der Zurechnungsfähigkeit aufgebracht und sich sogar in die Behauptung verstiegen, dass er im »Kult«, wie er Frees Organisation bezeichnet hatte, einer Gehirnwäsche unterzogen worden sei. Der Anwalt hatte nur seine Arbeit gemacht, und für die Anklage hatte er damit genügend Zweifel an der Chance einer fundierten Verurteilung geweckt, dass sie einen Handel mit Frees Verteidiger geschlossen hatten, bevor die Geschworenen zurückgekehrt waren. Anstelle der drohenden Todesstrafe hatte Free lebenslänglich bekommen und die - wenn auch winzige - Chance, nach frühestens zwanzig Jahren auf Bewährung entlassen zu werden. Leadbetter war damit überhaupt nicht einverstanden gewesen, aber
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