Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Der Schal war zu leicht, um Simon zu wärmen, aber vielleicht würde er ihn an die schreckliche Reise erinnern, die sie miteinander durchgestanden hatten. Vielleicht würde er ihm Mut machen.
Sie fand Dinivan draußen in der Halle. Er gab sich die größteMühe, geduldig auszusehen. Hier, in seiner vertrauten Umgebung, wirkte der Priester wie ein Schlachtross vor dem Kampf, begierig darauf, davonzusprengen und sich ins Getümmel zu stürzen. Er nahm ihren Ellenbogen und führte sie sanft den Korridor entlang.
»Wo ist Cadrach?«, fragte Miriamel. »Kommt er nicht mit uns, um den Lektor zu begrüßen?«
Dinivan schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich ihm noch vertrauen kann. Ich habe ja gesagt, dass ich ihn nicht für einen bösen Menschen halte, aber ich fürchte, er hat viele Schwächen und gibt ihnen nach. Es ist traurig, denn der Mann, der er einmal war, hätte uns jetzt wertvolle Ratschläge geben können. So aber habe ich es für besser gehalten, ihn nicht in Versuchung zu führen. Er nimmt mit einigen meiner Brüder ein angenehmes Mahl ein. Man wird ihn still und unauffällig überwachen.«
»Was war Cadrach?«, fragte Miriamel und verrenkte sich den Hals, um die deckenhohen Wandteppiche anzustarren, die den Korridor säumten und Szenen aus Ädons Himmelfahrt darstellten, der Verleugnung des heiligen Vilderivis, dem Strafgericht über Imperator Crexis. Sie dachte an diese stillen Figuren mit ihren großen, weißumränderten Augen und die vielen Jahrhunderte, die sie hier schon hingen, während draußen die Welt sich weiterdrehte. Würden auch ihr Onkel und ihr Vater einmal auf Fresken und Wandteppichen zu sehen sein, lange nachdem Miriamel und alle, die sie kannte, zu Staub zerfallen waren?
»Cadrach? Einst war er ein frommer Mann, und nicht nur der Kleidung nach.« Dinivan schien einen Augenblick zu überlegen, bevor er fortfuhr. »Wir wollen ein andermal über Euren Begleiter sprechen, Prinzessin, wenn Ihr meine Unhöflichkeit entschuldigen wollt. Jetzt solltet Ihr vielleicht darüber nachdenken, was Ihr dem Lektor sagen möchtet.«
»Was will er denn wissen?«
»Alles.« Dinivan lächelte, und seine Stimme wurde weicher. »Der Lektor will alles über alles wissen. Er begründet es damit, dass die Last und Verantwortung der Mutter Kirche auf seinen Schultern ruhen und er bei seinen Entscheidungen alle Dinge in seine Erwägung einbeziehen muss – aber ich glaube, er ist einfach schrecklichneugierig.« Er fing an zu lachen. »Von Buchhaltung versteht er mehr als die meisten Schreibpriester in der Sancellanischen Kanzlei, und mit einem Bauern aus dem Seenland hat er sich stundenlang über das Melken der Kühe unterhalten.« Seine Miene wurde wieder ernster. »Aber es ist so, wir leben in schweren Zeiten. Wie ich schon gesagt habe, kann ich bei manchen Dingen nicht einmal dem Lektor offenbaren, woher mein Wissen stammt, und das Zeugnis dessen, was Ihr mit eigenen Augen gesehen habt, wird viel dazu beitragen, ihm einige Dinge deutlich vor Augen zu führen, die er einfach wissen muss. Ihr braucht keine Angst zu haben, ihm wirklich alles zu erzählen. Ranessin ist ein weiser Mann. Er weiß mehr von dem, was die Welt bewegt, als irgendjemand sonst.«
Miriamel kam es vor, als dauere der Weg durch die dunklen Korridore der Sancellanischen Ädonitis eine Ewigkeit. Bis auf die Wandteppiche und gelegentlich vorüberhuschende Gruppen von Priestern schien jeder Gang dem vorigen zu gleichen, sodass sie nach kurzer Zeit völlig die Orientierung verlor. Als sie schließlich vor einer großen, mit einem zierlich geschnitzten, breitkronigen Baum geschmückten Holztür stehen blieben, war sie froh, dass die Reise beendet war.
Dinivan wollte die Tür öffnen, hielt aber plötzlich inne. »Wir sollten auch weiterhin vorsichtig sein«, meinte er und führte Miriamel zu einer kleineren Tür, ein paar Ellen den Korridor hinab. Diese Tür stieß er auf, und sie betraten ein kleines, mit Samt ausgeschlagenes Zimmer. In einem Kohlenbecken an der Wand brannte ein Feuer. Der große Tisch, der den größten Teil des Raums einnahm, war übersät mit Pergamenten und dicken Folianten. Der Priester lud Miriamel ein, sich an dem Kohlenbecken die Hände zu wärmen, und sagte: »Ich komme gleich wieder.«
Er zog an der Wand neben dem Tisch einen Vorhang beiseite, trat hindurch und war, als der Vorhang zurückfiel, verschwunden.
Nachdem ihre Finger angefangen hatten, erfreulich zu prickeln, entfernte sich Miriamel vom
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