Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
überzeugen, dass sie sich keine weitere Verzögerung erlauben durften. Bekümmert schulterten alle ihre geringen Habseligkeiten und machten sich wieder auf den Weg. Sie folgten dem Lauf des Ymstrecca nach Osten, immer entlang der Grenze des jetzt weit hinter ihnen liegenden Waldes, der als dünner schwarzer Streifen am nebligen nördlichen Horizont dahinlief.
Den ganzen Nachmittag lang sahen sie niemanden.
»Dieses Land hier macht einen fruchtbaren Eindruck«, meinte Deornoth, während sie einen Lagerplatz suchten. »Ist es nicht merkwürdig, dass uns außer diesem einsamen Reiter keine Menschenseele begegnet ist?«
»Ein Reiter ist genug«, versetzte Josua grimmig.
»Mein Volk ist nie gern hierhergekommen, so nah an den alten Wald«, erklärte Vara und schauderte. »Geister von Toten wohnen unter den Bäumen.«
Josua seufzte. »Noch vor einem Jahr hätte ich über so etwas gelacht. Jetzt habe ich selbst Geister oder noch Schlimmeres gesehen. Gott steh mir bei, was ist aus unserer Welt geworden!«
Geloë, die der kleinen Leleth ein Lager aus Gras bereitete, sah auf. »Es ist noch immer dieselbe Welt, Prinz Josua«, meinte sie. »Nur sieht man in diesen unruhigen Zeiten manches klarer. Die Lampen der Städte lassen viele Schatten verblassen, die man im Licht des Mondes deutlich erkennt.«
Mitten in der Nacht wachte Deornoth auf. Sein Herz klopfte wild. Er hatte von König Elias geträumt, der sich in ein spindeldürres Ungeheuer mit gierigen Krallen und roten Augen verwandelt hatte und sich auf Prinz Josuas Rücken festklammerte. Josua konnte ihn nicht sehen und schien die Gegenwart seines Bruders nicht einmal zu bemerken. Im Traum wollte Deornoth ihn warnen, aber Josua hörte nicht zu, sondern wanderte nur lächelnd durch die Straßen von Erchester, das schaurige Wesen huckepack auf den Schultern wie einen missgestalteten Säugling. Jedes Mal, wenn Josua sich bückte, um einem Kind über den Kopf zu streichen oder einem Bettler eine Münze zu reichen, streckte Elias die Hand aus, um das gute Werkzunichte zu machen, sobald Josua einen Schritt weitergegangen war. Er riss die Münze weg oder zerkratzte dem Kind mit schmutzigen Fingernägeln das Gesicht. Bald hatte Josua eine wütende Menge hinter sich, die ihn bestraft sehen wollte, aber der ahnungslose Prinz setzte heiter seinen Weg fort, selbst als Deornoth laut aufschrie und auf das Scheusal zeigte, das auf dem Rücken des Prinzen ritt.
Wach lag Deornoth im nächtlichen Grasland und versuchte, das beharrliche Gefühl des Unbehagens aus seinem Kopf zu schütteln. Elias’ Traumgestalt, verdorrt und voller Hass, wollte ihm nicht aus dem Sinn. Er richtete sich auf und schaute sich um. Das ganze Lager schlief. Nur Valada Geloë saß träumend oder grübelnd vor den letzten Schlacken des verlöschenden Feuers.
Er legte sich wieder hin und versuchte zu schlafen, fand aber vor lauter Furcht, der Traum könne wiederkehren, keine Ruhe. Schließlich ärgerte er sich so über seine eigene Feigheit, dass er aufstand, leise seinen Mantel ausschüttelte und zum Feuer hinüberging, wo er sich neben Geloë niederließ.
Die Zauberfrau blickte nicht auf. Ihr Gesicht war vom Feuer rotgefleckt, und ihre Augen starrten, ohne zu blinzeln, in die Glut, als sei alles um sie herum versunken. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Deornoth lief es eiskalt den Rücken hinunter. Was war mit ihr? Sollte er sie wecken?
Geloës Mund gab keine Ruhe. Jetzt hob sich die Stimme zu einem Wispern. »Amerasu, wo bist du? Dein Geist ist dunkel … und ich bin schwach …«
Einen Zoll vom Ärmel der Zauberfrau entfernt erstarrte Deornoths Hand in der Luft.
»Wenn du jemals teilst, dann lass es jetzt sein …« Geloës Stimme zischte wie der Wind. »Ach bitte …« Eine Träne, scharlachgesprenkelt, rann über die verwitterten Wangen.
Ihr verzweifeltes Flüstern trieb Deornoth auf sein dürftiges Lager zurück. Lange Zeit fand er keinen Schlaf, sondern starrte hinauf zu den blauweißen Sternen.
Noch einmal erwachte er, bevor der Tag graute. Diesmal weckte ihn Josua. Der Prinz schüttelte Deornoths Arm und legte ihm das handlose Gelenk an die Lippen, um ihn zum Schweigen zu mahnen.Der Ritter sah auf und gewahrte im Westen einen dunklen Klumpen, dichter noch als die allgemeine Schwärze der Nacht. Er näherte sich vom Flusslauf her. Gedämpfter Hufschlag klang über das Gras zu ihnen hinüber. Deornoths Herz raste. Er tastete am Boden nach der Schwertscheide und fand ein wenig Trost darin, den
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