Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
dort den Vorwurf des Mordes, den er dem Gerücht nach an seinem Vater begangen hatte. »Hören wir uns doch an, was Pryrates zu sagen hat.« Er wandte sich wieder seinem Essbrett zu, das ihm offenbar ein geeigneteres Gegenüber zu sein schien.
»Wir erwägen alles, was Pryrates zu sagen hat«, erwiderte der Lektor milde. Wieder senkte sich Schweigen über die Tafel. Der dicke Velligis und die anderen anwesenden Escritoren beschäftigten sich wieder mit ihrem Essen, sichtlich befriedigt, dass die seit langem befürchtete Auseinandersetzung ausgeblieben war.
Dinivan schlug die Augen nieder und betrachtete die Reste seiner Abendmahlzeit. Ein junger Priester, der hinter ihm stand, füllte ihm den Pokal mit Wasser nach – der Abend war von jener Art, die einen lieber auf Wein verzichten ließ – und streckte dann die Hand aus, um Dinivans Schale abzuräumen. Mit einer Gebärde hinderte Dinivan ihn daran. Es war besser, wenn man etwas hatte, auf das man sich konzentrieren konnte, und sei es nur, um die giftige Schlange Pryrates nicht ansehen zu müssen, der sein Vergnügen daran, die führenden Köpfe der Kirche zu verunsichern, kaum verhehlte.
Geistesabwesend schob Dinivan mit seinem Messer die Brotkrumen über die Schale und staunte wieder einmal, wie eng doch das Erhabene und das Alltägliche miteinander verknüpft zu sein schienen. Dieses Ultimatum von König Elias und die Antwort des Lektors darauf würden vielleicht als Ereignisse von ungeheurer Bedeutung in die Geschichte eingehen, wie etwa jener längst vergangene Tag, an dem der dritte Larexes den Edelmann Sulis zum Ketzer und Abtrünnigen erklärt und diesen prächtigen und vielgeplagten Mann ins Exil geschickt hatte. Doch selbst bei diesem weltbewegenden Anlass, überlegte Dinivan, hatte es wahrscheinlich Priester gegeben, die sich an der Nase kratzten oder an die Decke glotzten oder im Stillen ihre schmerzenden Gelenke beklagten, während sie mitten im Schmelztiegel der Historie saßen; genau wie Dinivan jetzt in den Überbleibseln seines Essens herumstocherte und Herzog Benigaris rülpste und seinen Gürtel lockerte. So würden die Menschen eben immer bleiben, eine Mischung aus Affe und Engel, deren tierischeNatur sich gegen die Fesseln der Zivilisation aufbäumte, während sie im selben Augenblick nach Himmel oder Hölle griffen. Es war wirklich komisch … oder hätte es sein sollen.
Während Escritor Velligis ein etwas harmloseres Tischgespräch einzuführen versuchte, spürte Dinivan plötzlich ein merkwürdiges Zittern in den Fingern: Die Tafel wackelte ganz leicht unter seiner Hand. Ein Erdbeben! , war sein erster Gedanke. Dann aber begannen die Olivenkerne in seiner Schale langsam aufeinander zuzugleiten und sich vor seinen erstaunten Augen zu Runen zusammenzusetzen. Verblüfft sah er auf, aber niemand sonst an der Banketttafel schien etwas Auffälliges zu bemerken. Velligis, das feiste Gesicht schweißglänzend, dröhnte weiter; die anderen Gäste sahen ihm zu und heuchelten höfliches Interesse.
Wie kriechende Insekten hatten sich die zahlreichen Reste in Dinivans Schale zu einem höhnischen Worten zusammengefügt: »SCHR IFTROLLENSCHWEIN«. Ihm wurde übel. Aufblickend begegnete er Pryrates’ haifischschwarzen Augen. Im Gesicht des Alchimisten stand größte Belustigung. Einer seiner weißen Finger bewegte sich über dem Tischtuch, als male er etwas in die leere Luft. Noch während Dinivan ihn beobachtete, wedelte Pryrates plötzlich mit allen zehn Fingern auf einmal. Die Krumen und Kerne in Dinivans Schale fielen sogleich auseinander. Was immer sie vorher zusammengehalten hatte, es war verschwunden.
Dinivans Hand hob sich abwehrend, um nach der Kette zu greifen, die er unter der Kutte trug, und nach der verborgenen Schriftrolle zu tasten. Pryrates’ Grinsen wurde in fast kindischer Freude immer breiter. Dinivan merkte, wie seine gewöhnliche Zuversicht unter dem nicht zu übersehenden Selbstvertrauen des roten Priesters schwand. Jäh begriff er, was für ein im Wind schwankendes und zerbrechliches Schilfrohr sein Leben war.
»Ich glaube ja nicht, dass sie wirklich gefährlich sind«, plapperte Velligis, »aber es ist ein furchtbarer Schlag gegen die Würde der Mutter Kirche, wenn sich diese Barbaren auf öffentlichen Plätzen selbst verbrennen, ein furchtbarer Schlag – als wollten sie die Kirche herausfordern, etwas gegen sie zu unternehmen! Es ist eine ansteckende Art von Wahnsinn, sagt man mir, übertragen durch schlechteLuft. Ich
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