Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
gehe nie mehr ohne ein Tuch aus, mit dem ich Mund und Nase bedecke …«
»Aber vielleicht sind die Feuertänzer ja gar nicht verrückt«, warf Pryrates beiläufig sein. »Vielleicht sind ihre Träume … wirklicher … als Ihr wahrhaben möchtet.«
»Das ist … das ist …«, stotterte Velligis, aber Pryrates achtete nicht auf ihn, sondern hielt die widerwärtig leeren Augen noch immer auf Dinivan gerichtet.
Er hat vor keiner Maßlosigkeit mehr Angst, dachte Dinivan. Die Erkenntnis schien ihm eine unerträgliche Last. Es gibt nichts mehr, das ihn zurückhält. Aus seiner schrecklichen Neugier ist ein rücksichtsloser und unersättlicher Hunger geworden.
War das der Punkt gewesen, von dem ab mit der Welt alles schiefzugehen schien? Als Dinivan und die anderen Träger der Schriftrolle Pryrates in ihren geheimen Rat aufgenommen hatten? Sie hatten dem jungen Priester ihre Herzen und die wie Schätze bewahrten Archive geöffnet und lange Zeit die geschliffene Schärfe seines Verstandes geachtet, bis sich die Fäulnis in seinem Inneren nicht länger übersehen ließ. Dann hatten sie ihn aus ihrem Kreis verbannt – doch anscheinend zu spät. Viel zu spät. Wie Dinivan saß der Priester am Tisch der Mächtigen, aber Pryrates’ roter Stern war jetzt im Steigen begriffen, während Dinivans Pfad dunkel und unbestimmt schien.
Was konnte er noch unternehmen? Er hatte Botschaften an die beiden überlebenden Schriftrollenträger geschickt, an Jarnauga und an Ookequks Schüler, obwohl er schon lange nichts von beiden gehört hatte. Darüber hinaus hatte er anderen, die ihren Glauben an das Gute bewahrt hatten, Vorschläge oder Anleitung zukommen lassen, etwa der Waldfrau Geloë und dem kleinen Tiamak in den Marschen von Wran. Er hatte Prinzessin Miriamel sicher zur Sancellanischen Ädonitis geleitet und sie dem Lektor ihre Geschichte erzählen lassen. Er hatte seinen Garten bestellt, ganz wie Morgenes es gewünscht hätte. Nun konnte er nur noch abwarten, was er für Früchte bringen würde.
Dinivan riss sich von Pryrates’ Blick los, der ihn beunruhigte, und sah sich im Speisesaal des Lektors um. Er versuchte sich Einzelheiten einzuprägen. Wenn dies ein Abend der Entscheidung werden sollte,ob zum Guten oder zum Bösen, wollte er sich wenigstens später daran erinnern können. Vielleicht würde er in irgendeiner Zukunft – einer helleren, als er sie sich im Augenblick vorstellen konnte – als alter Mann neben einem jungen Maler stehen und ihn auf Fehler aufmerksam machen: »Nein, so war es ganz und gar nicht! Ich war dabei … « Er lächelte und vergaß für eine kleine Weile seine Sorgen. Welch glücklicher Gedanke – diese dunkelste aller Zeiten zu überleben und keine größere Verantwortung mehr zu tragen, als einem armen Künstler, der mühsam einen Auftrag ausführte, das Dasein schwerzumachen!
Seine kurze Träumerei war jäh zu Ende, als er in der gewölbten Türöffnung, die zu den Küchen führte, ein bekanntes Gesicht gewahrte. Was tat Cadrach hier? Er befand sich kaum eine Woche in der Sancellanischen Ädonitis und konnte mit nichts beauftragt worden sein, das ihm Zutritt zu den Privatgemächern des Lektors verschaffte. Also war er nur hier, um die Gäste des Lektors auszuspionieren. War es reine Neugier, oder trieben Cadrach … Padreic … Gefühle alter Verbundenheit? Oder gleich mehrere, miteinander in Widerstreit stehende Loyalitäten?
Noch während Dinivan diese Gedanken durch den Kopf schossen, verschwand das Gesicht des Mönchs wieder in den Schatten der Tür. Gleich darauf erschien dort ein Diener mit einem breiten Tablett. Cadrach musste tatsächlich aus dem Türbogen verschwunden sein.
Wie als Kontrapunkt zu Dinivans Verwirrung erhob sich jetzt unerwartet der Lektor aus seinem hohen Sessel am Kopfende der Tafel. Ranessins gütiges Gesicht war düster; die Schatten, die das helle Kerzenlicht warf, gaben ihm ein uraltes, von Sorgen gebeugtes Aussehen.
Eine einzige Handbewegung genügte, um den Schwätzer Velligis zum Schweigen zu bringen. »Wir haben nachgedacht«, begann der Lektor langsam. Sein weißhaariges Haupt schien fern wie ein schneebedeckter Berggipfel. »Die Welt, wie Ihr sie seht, Pryrates, leuchtet in gewisser Weise ein. Ihre Logik hat Gewicht. Wir haben von Herzog Benigaris und seinem Gesandten, Graf Aspitis, ähnliche Dinge schon des Öfteren vernommen.«
» Reichsgraf Aspitis«, unterbrach Benigaris mit gerötetem Gesicht.Er hatte dem Wein des Lektors kräftig zugesprochen.
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