Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Und als sei es ihm nachträglich eingefallen: »Sludig!« Keine Antwort.
Simon befreite sich aus dem Gewirr seines Mantels und kam schwankend auf die Füße. Er schüttelte eine Schicht Pulverschnee ab und stand dann einen Augenblick nur da und rieb sich den Kopf, damit er wieder klar wurde. Ringsum stieg die Senke steil an.
Nach den vielen abgebrochenen Zweigen zu urteilen, die sich in Hemd und Hose gebohrt hatten, musste er von oben heruntergestürzt sein. Er tastete sich vorsichtig ab, aber außer der langen, bereits verheilenden Rückenwunde und ein paar hässlichen Zahnspuren am Bein schien er nur ein paar Prellungen und Kratzer davongetragen zu haben. Sein ganzer Körper war stocksteif. Er griff nach einer hervorstehenden Wurzel und kletterte mühsam den Hang hinauf. Mit zitternden Knien kroch er über den Rand und stand auf. Von seinen Freunden oder dem Pferd war nichts zu entdecken. Genauer gesagt, es gab überhaupt nichts zu entdecken außer endlosem, weißem Wald.
Simon versuchte, sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war. Zuerst kam ihm die Erinnerung an Skodis Kloster, dann an eine gehässige, eiskalte Stimme, die ihn verhöhnt und gequält hatte, und an einen Ritt in die Schwärze. Danach hatte es eine sanftere, traurige Stimme gegeben, die lange in seinen Träumen gesprochen hatte.
Er sah sich um und hoffte, wenigstens eine Satteltasche zu finden, aber es war vergeblich. An seinem Bein war noch die leere Messerscheide festgebunden; nach einigem Herumsuchen fiel sein Blick auf das Knochenmesser aus Yiqanuc, das am Grunde der Senke lag. Fluchend kletterte Simon noch einmal nach unten, um es zu holen. Als er wieder eine Waffe griffbereit hatte, fühlte er sich etwas besser, aber es blieb doch nur ein sehr kleiner Trost. Wieder oben angekommen, schaute er in die ungastliche Weite des winterlichen Waldes hinaus, und ein Gefühl von Verlassenheit und Angst überkam ihn, wie er es lange nicht mehr empfunden hatte. Er hatte alles verloren – alles. Das Schwert Dorn, den Weißen Pfeil, alles, was er sich erworben hatte – dahin. Und auch seine Freunde waren fort.
»Binabik!«, schrie er. Echos flohen und verhallten. »Binabik! Sludig! Helft mir!« Warum hatten sie ihn im Stich gelassen?
Wieder und wieder rief er nach seinen Freunden und stolperte verzweifelt auf der Waldlichtung umher.
Seine Stimme war heiser, sein vieles Schreien unbeantwortet geblieben, als Simon endlich auf einem Felsblock zusammensank und mit den Tränen kämpfte. Männer durften nicht weinen, nur weil sie sich verirrt hatten. Männer taten so etwas nicht. Die Welt schien leicht zu flimmern, aber das lag wohl nur an der grimmigen Kälte, die seine Augen brennen ließ. Männer durften nicht weinen, und wenn ihre Lage noch so schrecklich war …
Er steckte die Hand in die Manteltasche, um sie ein wenig zu wärmen. Seine Finger stießen auf das unebene Schnitzwerk von Jirikis Spiegel. Er nahm ihn heraus. Das Glas zeigte den grauen Himmel, als sei der Spiegel voller Wolken.
Simon hielt die Schuppe des Großen Wurms vor sich hin. »Jiriki«, murmelte er und hauchte die glänzende Oberfläche an, als könnte seine eigene Wärme dem Gegenstand Leben verleihen.
»Ich brauche Hilfe! Hilf mir !« Das einzige Gesicht, das ihm entgegensah, war sein eigenes mit der blassen Narbe und dem schütteren roten Bart. »Hilf mir.«
Neuer Schneefall setzte ein.
19
Kinder des Seefahrers
iriamel erwachte langsam und unerfreulich. Das Hämmern in ihrem Kopf wurde vom Hin- und Herschwanken des Bodens in keiner Weise besser und erinnerte sie unangenehm an ein ganz bestimmtes Abendessen zu Ädonmansa im Palast von Meremund. Sie war damals neun Jahre alt gewesen. Ein allzu nachgiebiger Diener hatte geduldet, dass sie drei Pokale Wein leerte. Der Wein war mit Wasser versetzt gewesen, aber Miriamel war trotzdem sehr übel geworden. Sie hatte sich mitten auf ihr neues Festtagskleid erbrochen und es so beschmutzt, dass man es nicht mehr reinigen konnte.
Jenem lange zurückliegenden Anfall von Übelkeit war genauso ein Schwanken vorausgegangen, wie sie es jetzt empfand, als befände sie sich an Bord eines auf hoher See schaukelnden Schiffs. Am Morgen nach ihrem alkoholischen Abenteuer war sie mit grauenhaften Kopfschmerzen im Bett geblieben – der Kopf hatte beinahe so wehgetan wie jetzt. Was für ein abartiges Gelage hatte sie in diesen abscheulichen Zustand gebracht?
Sie schlug die Augen auf. Der Raum war ziemlich dunkel, und die Deckenbalken über
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