Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
ununterbrochen seine Form ändernden Gebildes, verhüllt vom Nebel des Brunnens – Sturmspitze bis in die steinernen Grundfesten erbeben lassen. »Wir haben dich zurückgeholt aus dem Grenzland des Totenreichs.« Utuk’kus gleißende Maske warf den Schimmer des Brunnens so heftig zurück, dass ihr Gesicht nicht mehr zu erkennen war – als brenne zwischen Schultern und Krone eineFlamme. »Außerdem haben wir dir Waffen und Weisheit verliehen, wie kein anderer Jäger der Königin sie je besaß. Jetzt vertrauen wir dir eine Aufgabe von ungeheurer Schwierigkeit an, eine Aufgabe, der sich noch niemand, ob sterblich oder unsterblich, gestellt hat.«
»Ich nehme sie an, Herrin«, hatte er geantwortet, und sein Herz hatte geklopft, als wollte es vor Freude zerspringen.
Nun stand Ingen Jegger auf der königlichen Straße und blickte auf die Ruinen der alten Stadt ringsum, skelettdürre Reste auf den unteren Hängen des großen Eisgipfels. Damals, überlegte der Jäger, als meine Vorfahren kaum mehr als Wilde waren, lag Nakkiga in unendlicher Schönheit unter dem Nachthimmel, ein Nadelwald aus Alabaster und weißem Hexenholz, ein Halsband aus Chalzedon um die Kehle des Berges. Bevor meine Ahnen das Feuer kannten, hatten die Hikeda’ya im Inneren des Felsens Säulenhallen erbaut, und jede Kammer erstrahlte im glitzernden Lampenlicht, das sich in einer Million Kristallfacetten brach, einer Milchstraße von Sternen, die im finsteren Leib der Erde brannten.
Und jetzt war er, Ingen Jegger, das Werkzeug, das sie erwählt hatten! Er trug den Mantel, den kein Sterblicher je getragen hatte! Selbst für einen Mann, der gelernt hatte, was er lernen musste, dessen Disziplin so unmenschlich war wie die seine, war das ein Gedanke, der wahnsinnig machen konnte.
Der Wind wurde sanft. Das Ross, ein großer, blasser Schemen im Schneegestöber neben ihm, stieß einen ungeduldigen Laut aus. Er streichelte es mit der behandschuhten Hand, fühlte den raschen Puls des Lebens. Er setzte einen Stiefel in den Bügel und schwang sich in den Sattel. Dann pfiff er Niku’a. Sofort erschien auf einer nahen Anhöhe der ungeheure weiße Hund. Er war kaum kleiner als das Pferd des Jägers, sein Atem dampfte in der kalten Nachtluft. Von seinem kurzen Fell perlten Nebeltropfen, sodass es glänzte wie Marmor im Mondschein.
»Komm«, zischte Ingen Jegger ihm zu. »Große Taten warten auf uns!« Vor ihm dehnte sich die Straße und führte von den Höhen hinab in die arglosen Länder schlafender Menschen. »Der Tod war gestern.«
Er spornte das Ross. Die Hufe krachten auf die vereisten Steine wie Hämmer.
»Und so bin ich in gewisser Weise blind, was die Intrigen deines Bruders angeht.« Die Stimme in Simons Kopf wurde jetzt immer schwächer und welker wie eine Rose, die zu lange am Strauch gehangen hat. »Ich war gezwungen, nun selbst Schlachtpläne zu ersinnen – aber armselige , machtlose Kinderspiele scheinen sie mir im Vergleich zu den Horden aus Nakkiga und dem unvergänglichen, unsterblichen Hass der Roten Hand. Das Schlimmste aber ist, dass ich nicht einmal weiß, wogegen ich kämpfe, obwohl ich jetzt die ersten vagen Umrisse zu erkennen glaube. Und wenn das, was ich nur vage ahne, zutrifft, dann ist die Wahrheit schrecklich. So schrecklich
Inelukis Spiel hat begonnen. Er war das Kind meines Schoßes, ich kann der Verantwortung nicht ausweichen. Zwei Söhne hatte ich, Hakatri. Zwei Söhne verlor ich.«
Die Frauenstimme war nur noch ein Wispern, ein ganz leiser Hauch, und dennoch spürte Simon die Bitterkeit in ihr.
» Die Ältesten sind immer die Einsamsten, mein Stiller , aber niemand sollte von denen, die er geliebt hat, so lange nicht nachgeholt werden … «
Dann war sie fort.
Simon erwachte langsam aus der Dunkelheit, die ihn so übermäßig lange festgehalten hatte. Seine Ohren schienen eigenartig nachzuhallen, als hätte das Verschwinden der Stimme, der er so lange gelauscht hatte, eine große Leere zurückgelassen. Als er die Augen öffnete, strömte Licht herein und blendete ihn; als er sie wieder schloss, drehten sich bunte Ringe vor seinen geschossenen Lidern. Er versuchte einen vorsichtigeren Blick auf die Welt und stellte fest, dass er in einer ganz kleinen Waldsenke lag, die mit frischgefallenem Schnee bedeckt war. Durch die überhängenden Bäume sickerte blasses Morgenlicht, das die kahlen Zweige silbrig färbte und Flecken auf den Waldboden malte.
Ihm war sehr kalt, und er war allein.
»Binabik!«, rief er. »Qantaqa!«
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