Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Rachel hier eingeschlossen gewesen und habe sich so die Zeit vertrieben. Aber wie konnte jemand überhaupt hier hineingeraten sein, der so etwas tun würde?
Simon kam ihr in den Sinn, denn sie erinnerte sich daran, dass der Junge kletterte wie ein Affe, und an sein besonderes Talent, in Schwierigkeiten zu geraten. Er hatte den Engelsturm geliebt – war es nicht kurz vor König Johans Tod gewesen, als er unten von Küster Barnabas erwischt worden war? Rachel schmunzelte. Der Junge war der reinste Teufel gewesen.
Beim Gedanken an Simon fiel ihr wieder ein, was der Wachszieherjunge Jeremias gesagt hatte. Das Schmunzeln verschwand ausihrem Gesicht. Pryrates. Pryrates hatte ihren Jungen umgebracht. Wenn sie an den Alchimisten dachte, empfand Rachel einen Hass, der brannte und Blasen schlug wie Ätzkalk, einen Hass, der mit nichts zu vergleichen war, das sie jemals im Leben gefühlt hatte.
Benommen schüttelte sie den Kopf. Der bloße Gedanke an Pryrates war entsetzlich. Was Jeremias ihr über den kahlen Priester erzählt hatte, brachte sie auf Ideen, auf schwarze Wunschvorstellungen, die ihr bis dahin wesensfremd gewesen waren.
Erschreckt von der Stärke ihrer Empfindungen, zwang sie sich, die Aufmerksamkeit wieder der Schnitzerei an der Tür zuzuwenden.
Sie musterte mit schmalen Augen die sorgfältigen Buchstaben und entschied, dass Simon, was immer er sonst angestellt haben mochte, für diese Untat nicht in Frage kam. Die Schrift war viel zu sauber. Selbst als Morgenes ihn bereits unterrichtete, pflegte Simons Handschrift über die Seiten zu torkeln wie ein berauschter Käfer. Die Buchstaben hier stammten von der Hand eines Gebildeten. Aber wer würde an einer so abseitigen Stelle den Namen der Prinzessin ins Holz ritzen? Zweifellos benutzte der Küster Barnabas das Kämmerchen, aber die Vorstellung, dass diese säuerliche, vertrocknete alte Eidechse von Mann hier mühevoll den Namen der Prinzessin in eine Tür schnitt, überstieg selbst Rachels Einbildungskraft, und das, obwohl Rachel sich bei Männern so gut wie jede Bosheit oder Dummheit ausmalen konnte, sobald sie sich der ordnenden Frauenhand entzogen. Trotzdem war der Küster als schmachtender Verehrer gänzlich undenkbar.
Zornig schalt sich Rachel, weil ihre Gedanken abschweiften. War sie denn tatsächlich schon so alt und eingeschüchtert, dass sie sich in einem Augenblick, in dem es so viel Wichtigeres gab, in müßigen Spekulationen verlor? Seit der Nacht, in der sie und die anderen Kammerfrauen Jeremias gerettet hatten, war ein Plan in ihr herangereift; aber ein Teil von ihr wollte diesen Plan vergessen und lieber alles so lassen, wie es immer gewesen war.
Aber es wird nie wieder so sein, wie es einmal war, alte Närrin. Sieh es doch endlich ein.
Es fiel ihr neuerdings immer schwerer, sich vor Entscheidungen dieser Art zu drücken. Angesichts des entlaufenen Wachszieherjungenhatten Rachel und ihre Schützlinge am Ende begriffen, dass sie ihm zur Flucht verhelfen mussten. So hatten sie ihn eines Abends aus dem Hochhorst herausgeschmuggelt, verkleidet als Kammerfrau, die nach Erchester ging. Und während sie zuschaute, wie sich der misshandelte Junge hinkend in Sicherheit brachte, war Rachel ganz plötzlich etwas klar geworden: Das Böse, das wie eine schwarze Wolke über ihrer Heimat lag, ließ sich nicht länger ignorieren. Und, dachte sie jetzt grimmig, wenn die Oberste der Kammerfrauen sah, dass irgendwo Unsauberkeit herrschte, war es ihre Pflicht und Schuldigkeit, dafür zu sorgen, dass dieser Schmutz beseitigt wurde.
Rachel hörte schwere Stiefel über den weißen Steinboden der Glockenstube scharren und wagte einen schnellen Blick durch die schmale Öffnung. Die in ihren grünen Mantel gehüllte Gestalt des Königs war gerade im Begriff, in der Türöffnung zu verschwinden. Rachel lauschte den Schritten, die nach unten führten und immer leiser wurden. Danach wartete sie noch eine lange Zeit, bis sie schließlich die Leiter wieder hinunterkletterte. Sie verließ die Kammer hinter dem Vorhang, trat hinaus in die frische Luft des Treppenhauses und tupfte sich Stirn und Wangen ab, die trotz des kalten Steins schweißnass waren. Vorsichtig und geräuschlos machte sie sich an den Abstieg.
Aus dem Gespräch hatte sie eine Menge Wissenswertes erfahren. Jetzt musste sie sich nur in Ruhe etwas einfallen lassen. Diese Art Plan konnte doch wohl nicht halb so schwierig sein, wie eine Strategie für den großen Frühjahrsputz zu entwerfen? Und handelte es
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