Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Schultern berührten, konnte sie gar nicht umkippen, selbst wenn sie es versucht hätte.
Natürlich hatte sie nicht mit Absicht spioniert – nicht wirklich. Sie hatte die Stimmen gehört, als sie die beklagenswert schmutzigen Stiegen im zweiten Stock des Engelsturms inspizierte. Leise war sie von der Wendeltreppe in eine hinter einem Vorhang verborgene Nische getreten, damit es nicht so aussah, als belausche sie die Gespräche des Königs, denn sie hatte Elias’ Stimme fast sofort erkannt. Der König war vorübergestiegen und hatte dabei anscheinend zu dem grinsenden Mönch Hengfisk geredet, der ihn auf Schritt und Tritt begleitete. Aber seine Worte waren Rachel eher wie sinnloses Geschwätz vorgekommen. »Flüstern aus Nakkiga«, hatte er gesagt und »Lieder aus luftigen Höhen«. Er hatte etwas vom »Horchen aufden Ruf der Zeugen« erwähnt, davon, dass »der Tag des Handels auf dem Berggipfel nun bald kommen würde«, und noch viel unverständlichere Dinge.
Der glotzäugige Mönch folgte, wie stets dieser Tage, dem König auf dem Fuße. Elias’ wirre Worte strömten auf ihn ein, aber der Mönch nickte nur ohne Pause und kletterte hinter dem König her wie ein grinsender Schatten.
Auf eine Weise fasziniert und erregt, wie sie es lange nicht mehr gewesen war, konnte Rachel gar nicht anders, als den beiden Männern in ein paar Ellen Abstand hinterherzusteigen, immer im Schatten, die endlos lange Turmtreppe hinauf, die ihr vorkam, als hätte sie tausend Stufen. Der König hatte seine Litanei von Unbegreiflichkeiten fortgesetzt, bis er und der Mönch schließlich in der Glockenstube verschwanden. Rachel, die ihr Alter und das Ziehen in ihrem kranken Rücken spürte, war im darunterliegenden Stockwerk stehen geblieben. Sie lehnte sich an die Steinwand mit ihren wunderlichen Fliesen, schnappte nach Luft und staunte erneut über ihre eigene Kühnheit. Vor ihr befand sich eine Werkstatt. Ein großer Flaschenzug lag, in Einzelstücke zerteilt, auf einem mit Sägespänen bedeckten Block, daneben auf dem Boden ein Vorschlaghammer, als habe sein Besitzer sich mitten im Schlag in nichts aufgelöst. Neben der Treppe gab es nur diesen Hauptraum und die Nische mit dem Vorhang. Darum hatte Rachel, als der Mönch auf einmal die Stufen hinuntergeklappert kam, wirklich keine andere Möglichkeit gehabt, als schnell in die Nische zu huschen.
Ganz hinten darin hatte sie eine Holzleiter entdeckt, die nach oben ins Dunkel führte. Rachel wusste, dass sie zwischen dem König über ihr und demjenigen, den sein Mundschenk von unten heraufholen würde, gefangen war. Und so war ihr nichts anderes eingefallen, als auf der Suche nach einem sichereren Versteck die Leiter hinaufzusteigen. Jeder, der nah genug an die Nische herankam, konnte den Vorhang zur Seite streifen und sie dort finden, und Rachel wäre großen Unannehmlichkeiten oder sogar einem noch schlimmeren Schicksal ausgesetzt gewesen. Einem viel schlimmeren Schicksal. Der Gedanke an die Köpfe, die wie schwarzes Obst über dem Nerulagh-Tor faulten, spornte sie an, ihre alten Knochen die Leiter hinaufzubewegen,die, wie sich herausstellte, direkt in das Glöcknerkämmerchen führte.
Deshalb war es eigentlich gar nicht ihre Schuld, nicht wahr? Sie hatte ja im Grunde nicht spionieren wollen – man hatte sie praktisch gezwungen, sich Elias’ rätselhafte Unterredung mit dem Grafen von Utanyeat anzuhören. Gewiss würde die gute Sankt Rhiap das verstehen, sagte sie sich, und ein Wort für Rachel einlegen, wenn die Zeit kam, dass im Vorzimmer des Himmels aus der Großen Schriftrolle verlesen wurde.
Wieder lugte sie durch den Türspalt. Der König war an ein anderes Fenster getreten – es ging nach Norden, auf das brodelnde schwarze Herz des heraufziehenden Unwetters –, schien jedoch nicht die Absicht zu haben, den Raum zu verlassen. Rachel bekam allmählich Angst. Die Leute erzählten sich, dass Elias nächtelang nicht schlief, sondern zusammen mit Pryrates im Hjeldinturm beschäftigt war. War das eine weitere Wahnidee des Königs, dass er bis zum Morgengrauen in Türmen herumlief? Es war jetzt erst Nachmittag. Rachel merkte, wie ihr wieder schwindlig wurde. Musste sie hier für immer eingesperrt bleiben?
Ihr wild umherstreifender Blick fiel auf Buchstaben, die in die verriegelte Tür geschnitzt waren. Überrascht weiteten sich ihre Augen.
Jemand hatte den Namen Miriamel in das Holz geritzt. Die Buchstaben waren tief eingeschnitten, als sei derjenige, von dem sie stammten, wie
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