Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Nur eine Andeutung von Bewegung und Leben war noch zu spüren.
»Marksteine!«, rief Geloë über die Schulter. »Einer für jeden Monat des Jahres. Bei jeder Umrundung des Berges kommen wir an einem Dutzend von ihnen vorbei, so lange, bis wir den Gipfel erreicht haben. Sie müssen wohl einmal wie Tiere und Vögel ausgesehen haben.«
Deornoth betrachtete einen runden Klotz, der einmal ein Kopf gewesen sein mochte, und fragte sich, was für ein Tier er dargestellt hatte. Jetzt war er von Wind und Regen verwittert und formlos wie geschmolzenes Wachs, gesichtslos wie die vergessenen Toten. Deornoth schlug verunsichert das Zeichen des Baumes auf seiner Brust.
Kurz darauf hielt Geloë an und deutete auf die nordwestliche Seite des Tals. Der Saum des alten Waldes reichte dort bis fast ans Ufer des Stefflod. Wie ein dünner Streifen Quecksilber zog sich der Fluss durch den smaragdenen Talgrund.
»Seht«, sagte sie, »gleich jenseits des Flusses.« Sie wies noch einmalauf die dunklen Ausläufer des Waldes, die einer erstarrten Meereswoge ähnelten, als warteten sie nur auf das Tauwetter des Frühlings, um über das Flachland dahinzubrausen. »Dort am Waldrand. Das sind die Ruinen von Enki-e-Shao’saye, von dem es heißt, es sei die schönste Stadt gewesen, die jemals in Osten Ard erbaut wurde, seit die Welt besteht.«
Während seine Gefährten die Augen mit den Händen beschatteten und leise miteinander tuschelten, ritt Deornoth an den Wegrand und spähte hinüber nach dem fernen Wald. Er sah kaum mehr als etwas, das einmal eine geborstene, lavendelfarbene Mauer gewesen sein mochte, ein goldenes Aufblitzen.
»Man kann nicht viel erkennen«, meinte er leise.
»Nicht mehr«, nickte Geloë.
Der Tag nahm ab, und immer noch ging es bergauf. Jedes Mal, wenn sie den Berg umrundet und wieder den Nordhang erreicht hatten, wo sie von den Schatten in das immer mattere Licht des Nachmittags herüberwechselten, konnten sie am Horizont die zusammengeballte Schwärze sehen. Der Sturm näherte sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit. Die jenseitigen Grenzen des riesigen Aldheorte hatte er bereits verschluckt, sodass der ganze Norden in grauer Ungewissheit lag.
Nachdem sie den Berg zwölfmal umkreist und dabei hundertvierundvierzig Marksteine passiert hatten – nur eine kleine Zerstreuung, aber Deornoth hatte trotzdem mitgezählt –, verließen die Reiter endlich das düstere Laubwerk. Ein letzter Abhang, dann hatten sie die windige Höhe des Berges erklommen. Die Sonne war im Westen fast versunken; nur ein rötlicher Streifen blieb sichtbar.
Die Gipfelplatte war fast eben und nicht viel kleiner als Sesuad’ras Fuß. Ringsum ragten hohe Steine aus dem Boden wie Finger. Sie waren nicht bearbeitet wie die Marksteine, sondern bestanden aus großen, unbehauenen Felsblöcken, jeder so hoch wie vier Menschen, aus dem gleichen grauen, weiß- und rosenrotgeäderten Gestein, das auch den Berg formte.
Ganz oben erhob sich, rotglühend im Sonnenuntergang und umgeben von einem Feld aus wehendem Gras, ein gewaltiger, niedriger Bau aus schillerndem Stein.
Auf den ersten Blick sah er so aus wie die großen, alten Tempel Nabbans aus den Tagen des Imperiums, er war aber schlichter. Die unauffälligen, aber eindrucksvollen Formen wirkten fast wie aus dem Berg herausgewachsen. Es war nicht zu übersehen, dass dieses Bauwerk ein Teil des windigen Gipfels war und unter diesem unglaublich weiten Himmel stehen musste. Die Prunksucht und Selbstüberschätzung, die aus jedem Winkel der von Menschen erbauten Paläste sprach, waren den Erbauern dieser Hallen fremd. Die unermessliche Zahl der verronnenen Jahre hatte an einigen Stellen Wände einstürzen lassen. Jahrhundertelang waren Bäume ungehindert durch das Dach gewachsen, hatten sich durch Türbögen gedrängt wie ungebetene Gäste. Und doch war die schlichte Schönheit des Ortes so offensichtlich – und gleichzeitig so nicht-menschlich –, dass lange Zeit niemand ein Wort herausbrachte.
Endlich sprach Josua, und feierliche Begeisterung klang aus seiner Stimme: »Wir sind am Ziel. Nach unzähligen Gefahren und so viel Leid haben wir einen Ort gefunden, an dem wir bleiben können und sagen dürfen: Wir gehen nicht weiter.«
»Wenn auch nicht für immer, Prinz Josua.« Geloë sagte es sanft, als wolle sie seine Stimmung nicht trüben, Aber der Prinz schritt bereits selbstbewusst über den Gipfel, auf die weißen Mauern zu.
»Es muss nicht für immer sein!«, rief er. »Für den Moment aber
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