Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
– Freunde und auch Feinde –, die Geburten und Todesfälle, alles, was geschieht.« Mit einer ausladenden Geste deutete sie auf ihre Wohnung, den schwellenden Grasboden,die von den Ästen kleiner, blühender Bäume erfüllten Räume. Simon hatte festgestellt, dass manche davon grimmige kleine Dornen besaßen. »Wie bei allen Wohnstätten«, sagte Aditu, »ob sie Sterblichen oder Unsterblichen gehören, ist es das Leben in ihnen, das das Haus zu dem macht, was es ist – nicht die Türen und nicht die Wände.«
Sie stand auf und streckte sich. Simon beobachtete sie verstohlen und bemühte sich, weiterhin ein möglichst finsteres Gesicht zu machen, so schmerzhaft ihre anmutigen Bewegungen sein Herz auch klopfen ließen. »Wir wollen morgen weiterspielen«, erklärte sie. »Ich glaube, du machst Fortschritte, Seoman, auch wenn du es noch nicht merkst. Shent kann selbst Sudhoda’ya etwas lehren, Seoman.«
Simon wusste, dass sie sich langweilte und es Zeit war, sich zu verabschieden. Er achtete immer peinlich darauf, niemanden durch seine Anwesenheit zu belästigen. Er hasste es, wenn die Sithi freundlich und verständnisvoll mit ihm umgingen, als sei er ein unvernünftiges Tier, von dem man keine besseren Umgangsformen erwarten durfte.
»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen, Aditu.«
Sie forderte ihn nicht zum Bleiben auf. Zorn, Bedauern und eine tiefsitzende, körperliche Empfindung von Hilflosigkeit kämpften in ihm, als er sich kurz verneigte und durch die leise schwankenden Blütenzweige hinausging. Durch die orangefarbenen und rosenroten Wände leuchtete das Nachmittagslicht, als schritte er mitten in einen Sonnenuntergang hinein.
Eine Zeitlang blieb er vor Aditus Haus stehen und sah in die Weite, vorbei an dem schimmernden Nebel, der von der neben dem Eingang plätschernden Kaskade aufsprühte. Das Tal glühte rostbraun und golden, durchsetzt vom dunkleren Grün der bewaldeten Hügel und dem hellen Smaragdton gepflegter Wiesen. Wenn man es so betrachtete, schien Jao é-Tinukai’i so leicht fassbar zu sein wie Sonne und Regen. Wie überall gab es hier Felsen und Pflanzen und Bäume und Häuser. Aber es gab auch die Sithi, die in diesen Häusern wohnten, und Simon war mehr und mehr überzeugt davon, dass er sie niemals verstehen würde. Wie das winzige, verborgene Leben,das unter dem stillen Gras des Tales in der schwarzen Erde wimmelte, gab es auch in Jao é-Tinukai’i eine Fülle von Dingen, die über sein Begriffsvermögen hinausgingen. Er hatte bereits herausgefunden, wie wenig er wusste, als er, kurz nachdem die sanften Wesen ihn zu lebenslänglicher Haft verurteilt hatten, den ersten Fluchtversuch unternahm.
Drei volle Tage, nachdem Shima’onari ihm sein Urteil verkündet hatte, wartete er ab. So viel Geduld, das hatte er fest geglaubt, bewies eine kaltblütige, fein durchdachte Vorgehensweise, deren sich selbst der große Camaris nicht geschämt hätte. Wenn er jetzt nach zwei Wochen daran dachte, kam ihm seine Einfalt geradezu lächerlich vor. Was hatte er sich eigentlich eingebildet?
Am vierten Tag seiner Verurteilung, spät am Nachmittag, als der Prinz nicht zu Hause war, hatte Simon Jirikis Wohnung verlassen. Schnell, aber – wie er hoffte – unauffällig überquerte er den Fluss, kletterte über eine schmale Brücke und strebte dann der Stelle zu, an der er mit Aditu das Tal zum ersten Mal betreten hatte. Das Wandbild aus Stoffknoten, das zu Jirikis Haus führte, setzte sich am anderen Ufer des Flusses fort, immer von Baum zu Baum. Die Teile, an denen Simon jetzt vorbeikam, schienen zu zeigen, wie die Überlebenden einer großen Katastrophe mit ihren Schiffen ein neues Land erreichten – die Ankunft der Sithi in Osten Ard? – und dort große Städte bauten und in Wäldern und Gebirgen Reiche errichteten. Weitere in den Teppich eingewebte Zeichen deuteten darauf hin, dass Streit und Leid nicht in der zerstörten Heimat zurückgeblieben waren. Aber Simon hatte es zu eilig, um stehen zu bleiben und sich die Bilder genauer anzuschauen.
Nachdem er einige Zeit dem Fluss gefolgt war, bog er schließlich ab und wanderte auf das dichte Unterholz am Fuß der Hügel zu, wo er durch Heimlichkeit wettzumachen hoffte, was er an Zeit verlor. Es waren nur wenige Sithi unterwegs, aber Simon war überzeugt, dass sie Alarm schlagen würden, wenn sie sahen, dass ihr Gefangener sich den Grenzen von Jao é-Tinukai’i näherte. Darum schlüpfte er möglichst vorsichtig durch die Bäume und vermied die
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