Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
vielgenutzten Wege. Trotz des Hochgefühls der Flucht quälte ihn ein äußerstschlechtes Gewissen; man würde Jiriki bestimmt bestrafen, wenn er den gefangenen Sterblichen entwischen ließ. Aber Simon hatte auch seinen anderen Freunden gegenüber eine Verantwortung, eine Verantwortung, die schwerer wog als selbst die jahrtausendealten Gesetze der Sithi.
Niemand sah ihn; zumindest versuchte niemand, ihn aufzuhalten. Nach Stunden schien er in eine wildere, weniger gebändigte Gegend des alten Waldes gelangt zu sein. Er war fest überzeugt, es geschafft zu haben. Die ganze Strecke mit Aditu, von den Teichen bis zu Jirikis Tür, hatte keine zwei Stunden gedauert. Jetzt war er fast doppelt so lange unterwegs gewesen, immer den Fluss entlang und vom Tal fort.
Aber als Simon aus dem dichten Pflanzenwuchs, hinter dem er Deckung gesucht hatte, hervortrat, musste er feststellen, dass er sich nach wie vor in Jao é-Tinukai’i befand, wenn auch in einem Gebiet, das er bisher noch nicht gesehen hatte.
Er stand auf einer schattigen Lichtung. Überall hingen feine, seidige Fäden wie Spinnweben von den Bäumen; sie glänzten in der Nachmittagssonne, als sei der Wald in einem feurigen Netz gefangen. Mitten auf der Lichtung wuchs eine gewaltige Eiche, in deren Stamm eine ovale Tür aus moosbewachsenem, weißem Holz eingelassen war. Der Baum war so dicht von seidenen Fäden umgeben, dass der Stamm kaum noch zu sehen war. Simon hielt inne und fragte sich, was für ein winzigkleiner Einsiedler hier wohl leben mochte, in einem Baum am äußersten Rande der Stadt. Verglichen mit den prachtvollen, wogenden Falten von Jirikis Haus oder den anderen anmutigen Gebilden von Jao é-Tinukai’i, machte dieser Ort einen zurückgebliebenen Eindruck, so als verberge sich sein Bewohner selbst noch vor den kleinsten Veränderungen im Leben der Sithi. Trotz der Aura von Alter und Einsamkeit, die ihn umgab, hatte das Spinnenseidenhaus nichts Bedrohliches. Die Lichtung war leer und friedlich, behaglich in ihrer Belanglosigkeit. Die Luft, staubig, aber angenehm, erinnerte an die Wohnstube einer lieben alten Tante. Das übrige Jao é-Tinukai’i war hier nur eine ferne Erinnerung an ein pulsierendes, atmendes Leben. Unter diesen seidenverhangenen Bäumen konnte man verweilen, während draußen die Welt in Scherben fiel …
Während Simon so dastand und die wogenden Fäden betrachtete, rief eine Trauertaube leise und dumpf. Jäh fiel ihm sein Vorhaben ein. Wie lange hatte er hier schon verharrt und vor sich hin geglotzt wie ein Narr? Wenn nun der Besitzer des seltsamen Hauses ihn entdecken würde? Ganz zweifellos ginge dann das Geschrei los, und man würde ihn packen wie eine Ratte.
Wütend über diese Dummheit eilte Simon zurück in den Wald. Bestimmt hatte er sich nur in der Zeit verschätzt. Noch eine Stunde Marschieren, dann würde er die letzten Ausläufer der Stadt hinter sich gebracht haben und könnte durch das Sommertor gehen. Mit den gehorteten Vorräten, die er heimlich vom reichgedeckten Tisch des Prinzen gestohlen hatte, musste es ihm gelingen, sich nach Süden durchzuschlagen, bis er den Waldrand erreichte. Vielleicht kostete ihn der Versuch das Leben, aber das war nun einmal Heldenschicksal.
Simons Bereitwilligkeit, als Held zu sterben, schien auf die listenreiche Anlage von Jao é-Tinukai’i wenig Eindruck zu machen. Als er endlich wieder aus dem dichten Buschwerk auftauchte und die Sonne schon tief am Himmel stand, denn es war fast Abend, fand er sich knietief im goldenen Gras des offenen Waldlandes vor dem mächtigen Yásira, wo er wie betäubt vor den schimmernden, wogenden Flügeln der Schmetterlinge stehen blieb.
Wie konnte das sein? Er hatte sich streng an den Fluss gehalten. Nie war das Wasser mehr als ein paar Schritte entfernt gewesen, und es war stets in dieselbe Richtung geflossen. Auch die Bahn der Sonne am Himmel hatte gestimmt, soweit erkennbar. Seine Wanderung mit Aditu hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt – nie würde er auch nur die kleinste Einzelheit vergessen –, aber trotzdem war er mehr als den halben Nachmittag gelaufen und hatte nur eine Strecke von wenigen hundert Schritten zurückgelegt.
Als er das begriff, wurde ihm auf einmal ganz schwach. Er sank auf den warmen, feuchten Boden, das Gesicht tief in den Rasen gepresst, als hätte ein Hieb ihn gefällt.
In Jirikis Haus gab es viele Räume. Einen davon hatte er Simon zur Verfügung gestellt. Der Prinz selbst schien die meiste Zeit in demoffenen
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