Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
zu viel davon. Die Schmetterlinge sind noch da.«
»Wie?«
»Am Yásira. Sie finden sich dort ein, wenn wichtige Entschlüsse gefasst werden müssen. Sie sind noch nicht fortgeflogen, und das bedeutet, dass noch nicht alles entschieden ist.«
»Was für Entschlüsse?« Trotz Jirikis Warnung stieg in Simon sofort neue Hoffnung auf.
»Ich weiß nicht.« Jiriki schüttelte den Kopf. »Im Augenblick ist es für mich besser, nicht dorthin zu gehen. Meine Stimme gilt momentan nicht viel in den Ohren meiner Eltern, darum muss ich warten, bevor ich erneut vor sie trete und meine Bedenken vorbringe. Zum Glück scheint sich Erste Großmutter Amerasu Sorgen über das Verhalten meiner Eltern zu machen, vor allem über das meines Vaters.« Er lächelte schief. »Ihre Worte besitzen großes Gewicht.«
Amerasu. Simon kannte diesen Namen. Tief atmete er die Nacht ein. Plötzlich erinnerte er sich: ein Gesicht, noch schöner und doch unleugbar um vieles älter als selbst die Gesichter von Jirikis alterslosen Eltern. Er setzte sich auf.
»Wisst Ihr, Jiriki, dass ich ihr Gesicht einmal im Spiegel gesehen habe – das Gesicht von Amerasu, die Ihr Erste Großmutter nennt?«
»Im Spiegel? Im Drachenschuppenspiegel?«
Simon nickte. »Ich weiß, dass ich ihn nicht benutzen sollte, es sei denn, um Euch zu Hilfe zu rufen … es war ein Unfall.« Er berichtete von seiner seltsamen Begegnung mit Amerasu und der furchtbaren Erscheinung der silbern maskierten Utuk’ku.
So wundervoll auch die Grillen sangen, Jiriki schien sie vollkommen vergessen zu haben. »Ich habe dir nicht verboten, den Spiegel zu benutzen, Seoman«, sagte er. »Überraschend ist nur, dass du etwas anderes als natürliche Spiegelbilder darin sehen konntest. Höchst eigenartig.« Er machte eine ungewohnte Handbewegung. »Ich muss mit Erster Großmutter darüber sprechen. Wirklich höchst eigenartig.«
»Darf ich mitkommen?«, fragte Simon.
»Nein, Seoman Schneelocke«, lächelte Jiriki. »Niemand geht ohne ihre Aufforderung zu Amerasu, der Schiffgeborenen. Selbst Wurzel und Zweig – du würdest sie ihre nächsten Verwandten nennen – müssen eine solche Gunst höchst respektvoll erbitten. Du ahnstgar nicht, wie erstaunlich es ist, dass du sie in meinem Spiegel gesehen hast. Du bist eine Bedrohung für uns, Menschenkind.«
»Eine Bedrohung? Ich?«
Der Sitha lachte. »Ich meine nur deine Anwesenheit hier.« Er berührte leicht Simons Schulter. »Du bist unvergleichlich, Schneelocke. Etwas ganz Unbekanntes und Unvorhergesehenes.« Er stand auf. »Ich werde etwas unternehmen. Ich habe ja selbst den dringenden Wunsch, in das Geschehen einzugreifen.«
Simon, der noch nie gern gewartet hatte, blieb mit dem Teich, den Grillen und den unerreichbaren Sternen allein zurück.
Es kam ihm alles so seltsam vor. Eben noch hatte er um sein Leben, vielleicht um das Überleben von ganz Osten Ard gekämpft, sich gegen tödliche Erschöpfung, schwarze Magie und furchtbare Feinde gewehrt; dann plötzlich hatte man ihn dem Winter entrissen und kopfüber in den Sommer gesetzt, aus grausiger Gefahr mitten in … Langeweile.
Aber Simon begriff sehr wohl, dass es keineswegs so einfach war. Dass man ihn seiner Welt entzogen hatte, bedeutete ja nicht, dass die Schwierigkeiten, die er hinter sich zurückgelassen hatte, beseitigt waren. Im Gegenteil: Irgendwo dort draußen, lebend oder tot in den schneebedeckten Wäldern fern von Jao é-Tinukai’i, war sein Pferd Heimfinderin mit seiner schrecklichen Last, dem Schwert Dorn, um dessentwillen Simon und seine Freunde Hunderte von Meilen zurückgelegt und kostbares Blut vergossen hatten. Menschen und Sithi waren gestorben, um diese Klinge für Josua zu finden. Jetzt war das Schwert vielleicht im Wald verlorengegangen, und Simon hatte man so beiläufig eingesperrt, wie ihn Rachel einmal wegen irgendeiner geringen Verfehlung in eine von den dunklen Speisekammern des Hochhorstes gesteckt hatte.
Simon hatte Jiriki von dem verlorenen Schwert erzählt, aber der Sitha hatte nur mit aufreizender Gelassenheit den Kopf geschüttelt. Es war nicht zu ändern.
Simon sah auf. In der Stille des frühen Nachmittags war er lange flussaufwärts gewandert; er konnte Jirikis Haus und den Knotenteppichnicht mehr sehen. Er setzte sich auf einen Stein und sah einem weißen Reiher zu, der in einen der seichten Altarme des Flusses hinausstelzte. Das glänzende Auge starrte zur Seite und heuchelte Gleichgültigkeit, die die wachsamen Fische täuschen
Weitere Kostenlose Bücher