Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
den Mund, aber Simon schien ihre Verachtung nicht ganz überzeugend zu sein.
»Groß ist meine Scham«, fuhr Binabik fort. »Neun mal neun Nächte, es ist die Wahrheit, stand mein Speer vor ihrer Tür. Ich kam nicht zur Hochzeit, als die Nächte vergangen waren. Es gibt nichts, das ich sagen könnte, um diese Wunde zu heilen oder meine Schuld zu mindern. Eine Wahl musste ich treffen, wie es immer wieder geschieht, hat man erst einmal den Pfad des Mannes oder der Frau beschritten. Ich befand mich in einem fremden Land; tot war mein Meister. Ich traf meine Wahl; müsste ich dieselbe Entscheidung noch einmal treffen, so würde ich – und es schmerzt mich, das zu sagen – ebenso wählen.«
Die Menge summte noch vor Entsetzen und Verwirrung, als Binabik mit der Übersetzung seiner Worte für die Gefährten geendet hatte. Er drehte sich zu der jungen Frau um, die vor ihm stand, und sagte etwas zu ihr, leise und hastig, wobei er sie »Sisqi« anstatt bei ihrem vollen Namen nannte. Schnell wandte sie das Gesicht ab, als könne sie seinen Anblick nicht ertragen. Er übersetzte das zuletzt Gesagte nicht, sondern wandte sich traurig wieder ihren Eltern zu.
»Und was«, erkundigte Nunuuika sich verächtlich, »hattest du so Wichtiges zu entscheiden? Welche Wahl konnte dich zum Eidbrecherwerden lassen – dich, der schon so weit über seinen angestammten Schnee hinausgeklettert war, dessen Verlobungsspeer eine Frau angenommen hatte, die hoch über ihm stand?«
»Mein Meister Ookequk hatte Doktor Morgenes vom Hochhorst, einem großen Weisen aus Erkynland, ein Versprechen gegeben. Mein Meister war tot, und ich fand, dass es an mir sei, sein Versprechen zu halten.«
Uammannaqs Bart bebte vor Überraschung und Empörung. »Du hieltest ein einem Tiefländer gegebenes Versprechen für wichtiger als die Hochzeit mit einem Kind aus dem Haus des Ahnen oder das Holen des Sommers? Wahrlich, Binabik, sie hatten recht, die da sagten, du habest am Rockzipfel des dicken Ookequk den Wahnsinn erlernt! Du hast dich von deinem Volke abgewendet … für einen Utku!«
Binabik schüttelte hilflos den Kopf. »Es war mehr als das, Uammannaq, Hirte der Qanuc. Mein Meister fürchtete große Gefahr, nicht allein für Yiqanuc, sondern auch für die ganze Welt unter den Bergen. Ookequk fürchtete, ein Winter werde kommen, um vieles schlimmer als alle, die wir bisher erlebt hätten, ein Winter, der das Eishaus für tausend schwarze Jahre hartgefroren lassen würde. Und es war noch weit mehr als nur böses Wetter, was Ookequk voraussah. Morgenes, der alte Weise in Erkynland, teilte seine Ängste. Diese Gefahren waren es, die sein Versprechen so wichtig erscheinen ließen. Und sie sind auch der Grund, weshalb ich – weil ich glaube, dass die Sorgen meines Meisters berechtigt sind – meinen Eid noch einmal brechen müsste. Mir bliebe keine andere Wahl.«
Sisqinanamook hatte ihren Blick wieder auf Binabik gerichtet. Simon hoffte, ihre Miene würde milder werden, doch noch immer war ihr Mund zu einem festen, bitteren Strich zusammengepresst. Ihre Mutter Nunuuika schlug mit der flachen Hand auf das stumpfe Ende ihres Speers.
»Das ist überhaupt keine Entschuldigung!«, rief die Jägerin aus. »Es ist gar nichts. Soll ich denn nie mehr meine Höhle verlassen, nur weil der Schnee auf den oberen Pässen ins Rutschen kommen könnte? Auch wenn meine Kinder verhungern? Was du da sagst, ist so, als erklärtest du, dass dir dein Volk und die Bergheimat, die dichgenährt hat, nichts mehr gelten. Du bist ärger als der Trunkenbold, der wenigstens sagt: ›Ich sollte besser nicht trinken‹, und dann aus Schwäche wieder in sein Laster zurückfällt. Du stehst hier vor uns, kühn wie ein Räuber fremder Satteltaschen, und erklärst: ›Ich werde es wieder tun. Mein Eid bedeutet mir nichts.‹« Vor Wut schüttelte sie ihren Speer. Die versammelten Trolle zischten Beifall. »Du solltest unverzüglich hingerichtet werden. Wenn dein Wahnsinn andere ansteckt, wird der Wind in leeren Höhlen heulen, noch ehe eine Generation vergangen ist.«
Noch während Binabik in ausdruckslosem Ton diese letzten Worte wiedergab, war Simon zornbebend aufgesprungen. Sein Gesicht schmerzte an der Stelle, wo sich die Narbe quer über seine Wange gebrannt hatte, und jeder Stich erinnerte ihn an Binabik, wie er sich am Rücken des Eisdrachen festgeklammert und Simon zugeschrien hatte, er solle weglaufen und sich retten, während der Troll allein weiterkämpfte.
»Nein!«, schrie Simon,
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