Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
Nein, Ineluki brannte vor Leben, und sein Licht vertrieb die Schatten – zumindest einige von ihnen.
Ihr alle wisst, wie es weiterging. Ihr wisst, dass Ineluki seinen milden Vater erschlug und am Ende selbst vernichtet wurde. Während er dafür kämpfte, sich selbst und sein ganzes Volk vor dem Vergessen zu retten, zerstörte er Asu’a. Aber sein Feuer war so heiß, dass er nicht friedlich in die Schatten, die hinter dem Leben liegen, eingehen konnte. Ich verfluche ihn für das, was er meinem Gemahl, meinem Volk und sich selbst angetan hat, aber mein Mutterherz ist dennoch stolz auf ihn. Bei den Schiffen, die uns brachten – er brannte damals, und er brennt noch heute! Ineluki stirbt nicht!«
Wieder gab es Getuschel im Yásira. Amerasu hob die Hand.
»Friede, meine Kinder, Friede!«, rief sie. »Erste Großmutter hat Inelukis Schatten nicht umarmt. Ich preise ihn nicht für das, was er jetzt ist, nur für den zähen Willen, den kein anderer gezeigt hat, damals, als ein solcher Wille das Einzige war, das uns vor uns selber retten konnte. Und er hat uns gerettet, denn sein Widerstand, ja, sogar sein Wahnsinn spornten andere an, sich aufzuraffen und hierher zu fliehen, in das Haus unserer Verbannung.« Sie ließ die Hand sinken.
»Aber mein Sohn umarmte den Hass. Das hinderte ihn daran, einen wahren Tod zu sterben, aber es war eine Flamme, die seine eigene an Hitze noch übertraf, und sie verzehrte Ineluki. Von dem hellen Feuer, das einmal mein Sohn war, ist nichts übriggeblieben.« Ein Schleier lag über ihren Augen. »Fast nichts.«
Als sie eine Weile nicht weitersprach, stand Shima’onari auf, als wolle er zu ihr gehen. Er sagte etwas Leises in der Sithisprache zu ihr. Amerasu schüttelte den Kopf. »Nein, Enkel, lass mich.« Ein Unterton von Zorn klang aus ihrer Stimme. »Sprechen ist alles, was mir noch übrigbleibt, aber wenn man nicht auf mich hört, wird eine Finsternis über uns kommen, die mit dem liebenden Tod, dem wir in unseren Träumen zusingen, nicht das Geringste gemein hat. Sie wird ärger sein als das Nicht-Sein, das uns aus unserem Garten jenseits des Meeres vertrieb.«
Shima’onari, der eigenartig erschüttert wirkte, nahm wieder neben der wie versteinert dasitzenden Likimeya Platz.
»Ineluki hat sich verändert«, nahm Amerasu ihre Erzählung wieder auf. »Er ist zu etwas geworden, das es bisher in der Welt nicht gegeben hat, einer schwelenden Glut voller Verzweiflung und Hass, die sich nur am Leben hält, um für Dinge Vergeltung zu fordern, die vor langer Zeit Unrecht und Irrtum und Fehleinschätzung hießen, heute aber längst Geschichte sind. Wie wir selbst lebt Ineluki im Reich dessen, was einmal war. Aber im Gegensatz zu seinen wirklich lebenden Verwandten genügt es ihm nicht, in Erinnerungen an die Vergangenheit zu schwelgen. Er lebt oder existiert – an dieser Stelle ist auch die Sprache der Sterblichen nicht präzise genug – dafür, den augenblicklichen Zustand der Welt zu zerstören und das Unrecht von damals aufzuheben, aber sein einziger Blickwinkel ist der Zorn.Seine Gerechtigkeit wird grausam sein, die Art, wie er sie erzwingen wird, noch viel grausamer.«
Sie trat neben den Gegenstand auf dem Steinsockel und legte die schlanken Finger sanft auf den Rand der Scheibe. Simon fürchtete, sie könne sich schneiden, und empfand tiefes, unerklärliches Grauen beim Gedanken an Blut auf Amerasus dünner, goldener Haut.
»Ich weiß seit langem, dass Ineluki zurückgekehrt ist, und auch ihr habt es alle gewusst. Im Gegensatz zu manchen anderen jedoch habe ich den Gedanken nicht beiseitegeschoben oder immer wieder in meinem Kopf bewegt, wie man eine Beule oder wunde Stelle betastet, nur um den damit verbundenen Schmerz zu genießen. Ich habe gegrübelt, ich habe nachgedacht und mit den wenigen gesprochen, die mir vielleicht helfen konnten. Immer wieder habe ich versucht, zu begreifen, was in den Schatten vorgeht, die den Verstand meines Sohnes verhüllen. Der Letzte von denen, die mir neues Wissen brachten, war der sterbliche Junge Seoman – obwohl er es selbst nicht wusste und auch jetzt nicht die Hälfte der Dinge ahnt, die ich durch ihn erfahren habe.«
Wieder spürte Simon die Augen auf sich gerichtet, aber sein eigener Blick hing wie gebannt an Amerasus leuchtendem Gesicht, um das die große weiße Wolke ihrer Haare wehte.
»Das ist auch gut so«, erklärte sie. »Das Menschenkind ist auf seltsame Weise vielfach vom Schicksal geprüft und vom Zufall getrieben worden;
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