Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
mich begleiten willst, komm mit.«
Simon warf das zerkaute Rindenstück hinter sich. »Ich komme mit, wenn ich an der Tür sitzen darf. Und nicht sprechen muss.«
»Du kannst sitzen, wo du möchtest, Schneelocke. Du magst ein Gefangener sein, aber man ehrt dich. Mein Volk versucht, dir das Leben hier erträglich zu gestalten. Was das andere betrifft, so hängt es nicht von mir ab, ob jemand dir Fragen stellt. Komm, du bist fast erwachsen, Menschenkind. Hab keine Furcht, für dich selbst einzutreten.«
Simon runzelte die Stirn. »Also gut. Geht voran«, sagte er.
Am Eingang des gewaltigen, lebenden Zeltes blieben sie stehen. Die Schmetterlinge waren unruhig und flatterten mit den glänzenden Flügeln, sodass die Oberfläche des Yásira in wechselnden, buntenSchattenmustern schimmerte, als woge ein Weizenfeld im Wind. Das papierene Rascheln des sanften Gewimmels erfüllte das ganze Tal. Irgendetwas in Simon sperrte sich plötzlich dagegen, durch die Tür zu gehen. Er wich zurück und riss sich von Jirikis freundschaftlichem Arm los.
»Ich will keine schlechten Nachrichten hören«, sagte er. Ein kalter, schwerer Stein lag ihm im Magen, ein Gefühl, das er oft gehabt hatte, wenn er mit einer Strafe von Rachel oder dem Meister der Küchenjungen rechnete. »Ich will nicht, dass man mich anschreit.«
Jiriki blickte ihn fragend an. »Niemand wird schreien, Simon. Es ist nicht die Art der Zida’ya. Und vielleicht geht es ja gar nicht um dich.«
Simon schüttelte verlegen den Kopf. »Verzeiht mir. Natürlich.« Er holte tief Atem, zuckte verstört mit den Achseln und wartete, bis ihn Jiriki von neuem sanft beim Arm nahm und in den rosenumrankten Eingang des Yásira führte. Tausende und Abertausende von Schmetterlingsflügeln summten wie ein trockener Wind, als die beiden das riesige, von bunten Lichtern umspielte Innere des runden Zelts betraten.
Wie beim letzten Mal saßen in der Mitte der Halle Likimeya und Shima’onari auf niedrigen Liegen vor dem hoch aufragenden Fingerstein. Zwischen ihnen, auf einer höheren Liege, hatte Amerasu Platz genommen. Die Kapuze ihres hellgrauen Gewandes war zurückgeschlagen, das offene, schneeweiße Haar lag als weiche Wolke auf ihren Schultern. Um die schmale Taille trug sie eine hellblaue Schärpe, sonst jedoch keinerlei Zierrat oder Schmuck.
Simon starrte sie an, und für eine Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Wenn er auf ein ermunterndes Lächeln oder tröstliches Nicken gehofft hatte, wurde er enttäuscht; ihr Blick glitt über ihn hinweg wie über einen beliebigen Baum in einem großen Wald. Sein Herz sank. Wenn er sich je eingebildet hatte, Amerasu nehme in irgendeiner Weise an seinem Schicksal Anteil, musste er sich jetzt von dieser Idee verabschieden.
Neben Amerasu stand auf einem Sockel aus stumpfgrauem Stein ein seltsames Kunstwerk: eine blasse Scheibe aus einem Stoff, der wie Eis aussah, in einem breiten Ständer aus dunklem, glänzendverziertem Hexenholz. Simon dachte, es sei ein Tischspiegel – etwas, von dem er gehört hatte, hohe Damen besäßen es –, aber seltsamerweise schien sich nichts darin zu spiegeln. Der Rand der Scheibe war messerscharf und ihre Farbe vom frostigen Weiß eines Wintermondes. Andere, dunklere Farben schienen sich schläfrig in ihrem Inneren zu bewegen. Vor der Scheibe lag in einer Nische des geschnitzten Ständers eine große, flache Schale aus dem gleichen durchscheinenden Stoff.
Simon musste seinen Blick nach kurzer Zeit abwenden. Die ständig wechselnden Farben beunruhigten ihn. Der flimmernde Stein erinnerte ihn auf unheimliche Weise an Elias’ graues Schwert Leid, eine Erinnerung, die er am liebsten vergessen hätte. Er drehte den Kopf zur Seite und sah sich langsam in dem großen Raum um.
Wie Jiriki schon angedeutet hatte, schien sich an diesem Nachmittag die gesamte Bevölkerung von Jao é-Tinukai’i im Yásira eingefunden zu haben. Obwohl die goldäugigen Sithi wie stets betont farbenfroh gekleidet und wie seltene Vögel gefiedert waren, machten sie einen außergewöhnlich verhaltenen Eindruck, sogar nach den Maßstäben ihres eigenen Volkes. Als die beiden eintraten, hatten sich viele Augen auf Simon und Jiriki gerichtet, aber kein einziger Blick war auf ihnen haften geblieben. Die ganze Aufmerksamkeit der Versammlung galt den drei Gestalten in der Mitte der weiten Halle. Simon, der sich freute, nicht weiter beachtet zu werden, suchte für sich und Jiriki einen Sitzplatz am äußersten Rand der schweigenden Menge. Aditu
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