Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
›Heimsuchung‹.« Amerasu holte Atem. Ihre ungeheure Selbstbeherrschung schien für einen Moment brüchig zu werden.
»Das ist ein Wort, das es bei uns Zida’ya nicht gibt, vielleicht aber geben sollte.«
Nur das Summen zarter Flügel unterbrach die Totenstille.
»Als wir aus dem Äußersten Osten flohen, wollten wir jenem Nicht-Sein entgehen, das in unser Gartenland eingedrungen war. Alle außer dem sterblichen Jungen wissen davon, selbst diejenigen unserer Kinder, die nach der Flucht aus Asu’a geboren wurden, haben es mit der Muttermilch eingesogen; darum will ich diese Geschichte jetzt nicht wiederholen.
Als wir das neue Land erreichten, glaubten wir, dem Schatten entkommen zu sein. Aber ein Stück davon war mit uns gegangen. Dieser Fleck, dieser Schatten, ist jetzt ein Teil von uns, so wie die sterblichen Männer und Frauen dem Schatten ihres eigenen Endes nicht entkommen können.
Wir sind ein altes Volk. Wir kämpfen nicht gegen das Unvermeidliche. Darum flohen wir lieber aus Venyha Do’sae, als uns in sinnloser Schlacht ausrotten zu lassen. Aber der Fluch unserer Rasse liegt nicht darin, dass wir uns weigern, im zwecklosen Kampf gegen den großen Schatten unser Leben wegzuwerfen, sondern darin, dass wir ebendiesen Schatten in unsere Arme nehmen und voller Freude an uns drücken, ihn nähren wie ein Kind.
Wir brachten den Schatten mit. Vielleicht kann kein lebendes, vernunftbegabtes Wesen ohne einen solchen Schatten sein, aber obwohl unser Leben so lang ist, dass die Spanne eines Menschendaseins für uns der eines Glühwürmchens gleicht, können wir trotzdem jenen Schatten, der der Tod ist, nicht einfach verdrängen. Wir können nicht so tun, als hätten wir das Nicht-Sein vergessen. Stattdessen tragen wir es in uns wie ein unheilvolles Geheimnis.
Die Menschen müssen sterben und haben Angst davor. Auch wir, die wir einst im Garten lebten, müssen sterben, auch wenn unsere Zeit unendlich viel länger währt. Doch von der Sekunde an, in der wir zum ersten Mal die Augen aufschlagen, umarmen wir unseren Tod und machen ihn zum untrennbaren Teil unseres Wesens. Wenn die Jahrhunderte an uns vorüberziehen, sehnen wir uns danach, ganz mit ihm zu verschmelzen, während um uns herum die Menschen, die den Tod fürchten, sich vermehren und vergehen wie Mäuse. Wir machen unseren Tod zum Kern unseres Ichs, unserem engsten und vertrautesten Freund, und lassen das Leben an uns vorüberrauschen, während wir die triste Gesellschaft des Nicht-Seins genießen.
Wir wollten Ruyan Vés Kindern das Geheimnis unserer Unsterblichkeit nicht mitteilen, obwohl sie Zweige vom selben Baum wie wir sind. Wir verweigerten Ruyans Volk, den Tinukeda’ya, das ewige Leben und drückten den Tod gleichzeitig noch fester an unsere eigene Brust. Wir sind heimgesucht, meine Kinder. Das Menschenwort ist der einzig zutreffende Ausdruck. Wir sind heimgesucht.«
Simon verstand den größten Teil von Amerasus Rede nicht, aber die Stimme von Erster Großmutter wirkte auf ihn wie die Zurechtweisung einer liebevollen Mutter. Er fühlte sich klein und unwichtig, zugleich aber getröstet, weil die Stimme da war und sich auch an ihn richtete. Die Zida’ya ringsum bewahrten ihren Gleichmut.
»Dann kamen die Schiff-Männer«, fuhr Amerasu fort, und ihre Stimme wurde tiefer. »Es genügte ihnen nicht, in den Grenzen von Osten Ard zu leben und zu sterben wie die Menschenmäuse vor ihnen. Die Bissen, die wir ihnen zuwarfen, reichten ihnen nicht aus. Wir Zida’ya hätten ihren Raubzügen ein Ende setzen können, bevor sie zu mächtig wurden, aber stattdessen betrauerten wir den Verlust des Schönen und jauchzten dabei insgeheim. Unser Tod kam! Ein ruhmreiches und endgültiges Untergehen, das die Schatten greifbar werden lassen würde. Iyu’unigato, mein Gemahl, gehörte zu denen, die daran glaubten. Sein sanftes Dichterherz liebte den Tod mehr als seine Gattin oder die Kinder seiner Lenden.«
Zum ersten Mal begann sich in der Versammlung leises Flüstern bemerkbar zu machen, ein unbehagliches Murmeln, kaum lauter als das Rascheln der Schmetterlingsflügel über ihnen. Amerasu lächelte traurig.
»Es ist hart, solche Dinge zu hören«, sagte sie, »aber die Zeit der Wahrheit ist gekommen. Unter allen Zida’ya gab es nur einen, der sich wirklich nicht nach stillem Vergessen sehnte. Es war mein Sohn Ineluki, und er brannte. Ich meine damit nicht die Art seines Todes – das mag man als grausamen Hohn oder als schicksalhafte Fügung betrachten.
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