Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
aber weder ist er ein mächtiger Zauberer noch ein großer Held. Es hat seine Pflicht bewunderungswürdig erfüllt, jetzt aber darf man seinen jungen Schultern nicht noch mehr aufbürden. Doch glaube ich, dem, was er mir anvertraut hat, entnehmen zu können, wie Inelukis Plan wirklich aussieht.« Sie holte tief Atem und sammelte ihre Kräfte. »Er ist entsetzlich. Ich könnte ihn euch schildern, aber vielleicht reichen Worte dafür nicht aus. Ich bin die Älteste dieses Stammes, ich bin Amerasu die Schiffgeborene. Und trotzdem würden einige von euch insgeheim zweifeln und andere auch weiterhin das Gesicht abwenden. Viele von euch möchten lieber mit der Schönheit vorgestellter Schatten leben als mit der hässlichen Schwärze im Kern dieses Schattens – des Schattens, den mein Sohn über uns alle legt.
Darum will ich euch zeigen, was ich gesehen habe, damit auch ihr es seht. Auch wenn wir dann immer noch die Augen verschließen können, meine Kinder, können wir doch nicht mehr vorgeben, es sei nichts geschehen. Vielleicht können wir den Winter noch eine Weile fernhalten, aber am Ende wird er auch uns verschlingen.« Ihre Stimme wurde plötzlich lauter, klagend und kräftig zugleich. »Wenn wir freudig dem Tod in die Arme laufen wollen, so lasst uns wenigstens zugeben, dass wir es tun! Wir wollen wenigstens dieses eine Mal, jetzt, am Ende aller Dinge, ehrlich zu uns selbst sein.«
Wie überwältigt von Erschöpfung und Leid ließ Amerasu die Augen sinken. Eine kleine Weile herrschte Schweigen. Dann, als ein paar leise Gespräche beginnen wollten, hob sie das Gesicht wieder und legte die Hand auf die blasse Mondscheibe.
»Das hier ist die Nebellampe, die meine Mutter Senditu einst aus Tumet’ai mitbrachte, als der schleichende Frost die Stadt erstickte. Wie die Schuppen des Urwurms, das Sprechfeuer, der singende Scherben und der Teich im großen Asu’a ist sie ein Tor zur Straße der Träume. Vieles hat sie mir schon gezeigt. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, diese Visionen mit euch zu teilen.«
Amerasu streckte den Arm aus und berührte leicht die vor der Steinscheibe stehende Schale. Eine blaue Flamme sprang empor und schwebte dochtlos über dem fahlen Schalenrand. Die Scheibe darüber begann ein geheimnisvolles Licht auszustrahlen. Während es immer heller wurde, verdunkelte sich das Innere des Yásira so sehr, dass es Simon vorkam, als sei der Nachmittag wirklich schon vergangen und der Mond vom Himmel gefallen, um hier vor ihm zu schweben.
»In letzter Zeit sind die Traumlande unserer Welt immer näher gekommen«, erklärte Amerasu, »so wie Inelukis Winter den Sommer eingeschlossen und aufgefressen hat.« Ihre Stimme war glasklar und doch nur ein Wispern. »Es herrscht Unruhe in den Traumlanden, und es gibt Augenblicke, in denen man sich nur mühsam auf der Straße halten kann, darum bitte ich euch, mir eure Gedanken und euren schweigenden Beistand zu leihen. Die Zeit ist lange vergangen, in der die Töchter Jenjiyanas so mühelos durch die Zeugen sprechen konnten wie von Ohr zu Ohr.« Sie bewegte die Hand über derScheibe. Es wurde noch dunkler. Das leise Flattern der Schmetterlingsflügel nahm zu, als spürten die Tiere eine Veränderung in der Luft.
Die Scheibe glühte, und ein bläulicher, dunstiger Fleck begann sich auf ihr auszubreiten. Als er sie ganz bedeckte, hatte sich die Nebellampe schwarz verfärbt. Aus dieser Schwärze leuchteten verstreut eisige Sterne, und vom Grunde der Lampenscheibe wuchs langsam ein heller Umriss. Es war ein Berg, weiß und scharf wie ein Stoßzahn, kahl wie ein Knochen.
»Nakkiga«, sagte Amerasu aus der Dunkelheit. »Der Berg, den die Sterblichen Sturmspitze nennen. Die Heimat Utuk’kus, die ihre Jahrtausende hinter einer Silbermaske verbirgt, weil sie nicht zugeben will, dass der Schatten des Todes auch sie berühren kann. Mehr als alle anderen unserer Rasse fürchtet sie sich vor dem Nicht-Sein, obgleich sie von allen noch Lebenden die älteste ist – die Letzte der Gartengeborenen.« Amerasu gab ein leises Lachen von sich. »Ja, meine Urgroßmutter ist sehr eitel.« Dann blitzte es wie von Metall. Die Nebellampe trübte sich ein, und der Berg wurde wieder sichtbar. »Ich kann sie fühlen«, fuhr Amerasu fort. »Wie eine Spinne wartet sie. Keine Flamme der Gerechtigkeit brennt in ihr wie in Ineluki, so wahnsinnig er jetzt auch sein mag. Ihr einziger Wunsch ist es, alle zu vernichten, die sich an ihre Demütigung in jener verschwommenen Vorzeit erinnern,
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