Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
damals, als unsere Völker sich voneinander losrissen. Sie gab dem tobenden Geist meines Sohnes eine Zuflucht, sie nährte seinen Hass wie er den ihren. Jetzt wollen sie das ausführen, was sie so lange Jahrhunderte geplant haben. Seht!«
Die Nebellampe pulsierte. Der weiße Berg schien zu wachsen. Er dampfte unter dem kalten schwarzen Himmel. Plötzlich begann er sich aufzulösen und im Dunkel zu verschwinden. Nachtschwarze Leere blieb zurück.
Eine lange Pause trat ein. Simon, der mit angehaltenem Atem jedem Wort der Sitha gefolgt war, fühlte sich jäh alleingelassen. Wieder lag knisternde Spannung in der Luft, stärker noch als vorher.
»Oh!«, keuchte Amerasu erschrocken.
Überall um Simon herum regten sich die Sithi. Fragende Blickeund Unsicherheit machten sich breit. Die Saat der Furcht begann aufzugehen. In der Mitte der Nebellampe erschien ein silberner Glanz, der sich ausbreitete wie Öl auf dem Wasserspiegel eines Teiches, bis er den dunklen Umriss ausfüllte. Das Silber bildete Schlieren und floss in verschiedene Richtungen, bis es schließlich zu einem Gesicht zusammenlief, dem Antlitz einer Frau, ausdruckslos bis auf die hellen Augen, die aus dämmrigen Schlitzen funkelten.
Simon starrte wie gebannt auf die Silbermaske. In seinen Augen brannten Tränen der Angst. Er konnte den Blick nicht abwenden. Sie war so alt und so stark … so stark …
»Viele Jahre sind vergangen, Amerasu no’e-Sa’onserei.« Die Stimme der Nornenkönigin war überraschend melodisch, aber ihre Süße konnte die abgründige Fäulnis darunter nicht völlig verbergen. »Lange ist es her, Urenkelin. Schämst du dich deiner Verwandten im hohen Norden, weil du uns bisher noch nie zu euch eingeladen hast?«
»Du verspottest mich, Utuk’ku Seyt-Hamakha.« Ein Zittern lag in Amerasus Antwort, ein erschreckender Unterton von Furcht. »Wir alle kennen den Grund für deine Verbannung und die Trennung unserer Familien.«
» Du liebtest ja stets die Gerechtigkeit, kleine Amerasu.« Die Verachtung in der Stimme der Nornenkönigin schüttelte Simon wie ein Fieber. » Aber wer allzu gerecht ist, der mischt sich gern ein, und so ist es mit eurem Stamm, der die Hand nach allem ausstreckt, auch immer gewesen. Ihr wolltet die Sterblichen nicht aus dem Land treiben, was vielleicht alles gerettet hätte. Und selbst jetzt, nachdem sie die Gartengeborenen vernichtet haben, könnt ihr von den Menschen nicht lassen.« Utuk’kus Atem kam und ging in zischenden Stößen. »Ah, ich sehe, dass auch heute einer von ihnen bei euch ist.«
Simons Herz schien anzuschwellen. Er rang nach Luft. Die entsetzlichen Augen bohrten sich in sein Gesicht. Warum schickte Amerasu sie nicht zurück? Er wollte schreien und weglaufen, aber er konnte nicht. Auch die Sithi ringsum schienen entmutigt und wie versteinert.
»Du vereinfachst die Dinge zu sehr, Urgroßmutter«, erwiderte Amerasu endlich. »Wenn du nicht lügst.«
Utuk’ku lachte, und bei dem Klang hätten Steine weinen können.
»Närrin!« , rief sie. »Ich vereinfache die Dinge? Ihr seid zu weit gegangen! Zu lange habt ihr auf die Taten der Sterblichen geachtet und dabei das Wichtigste übersehen. Das wird euch den Tod bringen!«
»Ich weiß, was ihr vorhabt!«, versetzte Amerasu. »Vielleicht hast du mir genommen, was von meinem Sohn noch übrig war, aber selbst im Tod durchschaue ich seine Gedanken. Ich habe gesehen …«
»Genug!« Utuk’kus wütender Aufschrei fegte durch das Yásira wie eine eisige Windbö, die das Gras knickte und die Schmetterlinge panisch aufflattern ließ. » Genug ! Du hast dein letztes Wort und damit dein Urteil gesprochen. Es ist der Tod!«
Zu aller Entsetzen begann Amerasu im dämmrigen Licht zu zittern, als kämpfe sie gegen unsichtbare Fesseln an. Ihre Augen waren weit aufgerissen, der Mund bewegte sich lautlos.
»Ihr werdet euch nicht länger einmischen, keiner von euch!« Die Stimme der Nornenkönigin wurde immer schriller und schrecklicher. »Der falsche Friede ist zu Ende. Zu Ende! Nakkiga sagt sich von euch los!«
Überall im Yásira schrien die Sithi vor Schreck und Wut. Likimeya stürzte auf Amerasus schattenhafte Gestalt zu. In der Nebellampe fing Utuk’kus Gesicht zu flimmern an und verschwand. Einen Augenblick blieb der Zeuge dunkel, aber nur eine Sekunde. Dann glühte in der Mitte der Lampe ein winziger roter Fleck auf, ein kleiner Funke, der immer größer wurde, bis dort eine lodernde Flamme brannte, die die erschrockenen Züge von Jirikis Eltern
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