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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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weiter, bis er beinahe in den verschwenderisch mit goldenem Lametta, roten Glaskugeln und honigfarbenen Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum getaumelt wäre, der neben den Stufen zur Bar festliche Stimmung verbreiten sollte. Am Tresen ließ er sich auf einen mit rotem Kunstleder gepolsterten Hocker sinken.
    Â»Was darf’s denn sein?«, fragte der Barkeeper.
    Â»Ein Glas Leitungswasser.«
    Â»Was wäre die Welt ohne Gewinner«, murmelte der Barkeeper.
    Kant beschloss, sich das Gesicht zu merken. Er hatte einen Blick für solche Gesichter, und er merkte sich viele davon. Er streckte seine Hand nach einem Keramikschälchen mit Salznüssen aus, das plötzlich verschwunden war, als er zum zweiten Mal zugreifen wollte. Sein Handy vibrierte in der Hosentasche. Er konnte zwar selbst niemanden mehr damit anrufen, aber zumindest konnte man ihn noch erreichen. Er holte das Telefon her aus und stellte fest, dass er die Nummer des Anrufers nicht kannte. Es sprach also nichts dagegen, sich zu melden. »Julian Kant.«
    Â»Emma Brahms«, sagte eine helle Frauenstimme. »Die Tochter von Theodor Brahms, erinnern Sie sich?«
    Er erinnerte sich. Die Pechmarie. Ihretwegen hatte er damals den Prozess verloren. Er war sicher, dass sie ihn angesteckt hatte, und auf keinen Fall wollte er noch mal irgendwas mit ihr zu tun haben. Nichts. Nada . »Ich verstehe Sie sehr schlecht«, rief er. »Wer ist da? … Die Verbindung … Ich … Hallo? Hallo?« Er drückte Beenden-Taste und starrte auf das Display, als wollte er ganz sichergehen, dass er wirklich nicht mehr mit Emma Brahms verbunden war.
    Als er aufsah, begegnete er dem Blick des Barkeepers, der wortlos ein halb leeres Glas Leitungswasser vor ihn hinstellte. Es war ein Blick, der etwas tief in seinem Inneren anrührte. Julian Kant stand auf und schleppte sich zum Ausgang des Casinos.
    Draußen war hellichter Tag. Der grelle Sonnenschein auf dem Schnee blendete ihn, seine Augen schmerzten. Das alles – es hätte ihm rein gar nichts ausgemacht, wenn er nur gewonnen hätte!

    A uf den Bürgersteigen lag dichter Schnee. Die lichtergeschmückten Straßen waren menschenleer. Nur ein paar Taxis glitten wie Raubfische auf der Suche nach Nahrung über den vereisten, schwarz glänzenden Asphalt. Glitzernde Flocken wirbelten durch die Scheinwerferkegel. Emma stapfte mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Fäusten über die Uferpromenade, nachdem sie zwanzig Minuten vergeblich auf die Straßenbahn Richtung Haupt bahnhof gewartet hatte.
    Auf dem Steinpodest unter einer Statue von Hans Christian Andersen kauerte ein junges Pärchen. Der Junge hielt das Mädchen fest umschlungen. Verborgen unter den Kapuzen ihrer Wolljacken tauschten sie innige Küsse. Emma schaute hin und rasch wieder weg. Sehnsucht stach ihr ins Herz.
    Sie dachte an Mark und daran, dass er von heute auf morgen verschwunden war. Bis er in ihr Leben getreten war, hatte sie jeden Mann auf Abstand gehalten – Affären ja, Beziehung nein, Liebe schon gar nicht. Sie hatte immer gewusst, wie es enden musste, falls sie sich jemals verliebte. Ganz ohne Kristallkugel hatte sie das Ende vorhergesehen, und zwar genauso, wie es an ihrem Geburtstag eingetreten war, nach einem Sturm der Gefühle.
    Restauratorinnen sollten sich nicht verlieben, dachte sie. Schon gar nicht, wenn sie ich sind. Sie sollten sich nicht in attraktive Maler verlieben. Sie sollten nicht versuchen, so zu tun, als könnten sie dem Leben eines Bohemiens etwas abgewinnen. Sie sollten nicht auf einmal alle ihre Prinzipien über Bord werfen und sich schon nach drei Verabredungen im Dachatelier eines nach Farbe und Terpentin riechenden Fünfundzwanzigjährigen auf dem Boden … Sie schüttelte den Kopf. Nicht dran denken. Nicht an die Berührungen, nicht an die Gefühle, nicht an die Bilder.
    Hinter der Glastür der Bank gegenüber blinkten die roten und blauen Glühbirnen eines elektrischen Weih nachtsbaums. Auf der Spitze prangte mit weit ausgebreiteten Flügeln ein Rauschgoldengel. Die Zweige bogen sich unter dem Gewicht des großzügig angebrachten Schmucks, hauptsächlich Euro-Zeichen, Ziffern und Prozentzeichen aus Messing. Silberne und goldene Kerzen warfen ihr künstliches Licht auf Sterne aus Stanniolpapier, Lametta und schimmernden Kunstschnee.
    Emma stemmte sich gegen den Wind. Sie ging vorbei am Erzbischöflichen Ordinariat, nahm die

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