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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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»Ich weiß ja, dass es eine Zeit gab, in der es so aussah, als wäre ich ein Glückskind und alles fiele mir so zu.«
    Â»Ich will nur sagen: Tu jetzt nichts Unüberlegtes.«
    Â»Du meine Güte, Papa, es ist doch nicht so, dass ich mir einen Sprengstoffgürtel umschnalle und in ein Flugzeug nach Amerika steige!«
    Ihr Vater schwieg, als versuchte er tatsächlich, abzuwägen, was schlimmere Auswirkungen haben könnte. Dann sagte er: »Wir können es uns nicht leisten …« Er unterbrach sich. »Jedenfalls, wenn nicht noch ein Wunder passiert, muss ich den Laden zum Jahresende aufgeben. Über die Echtheit der Madonna von Ignaz Günther gibt es immer noch keine Klarheit, und die Ming-Vase, die du umgestoßen hast …«
    Emma schloss die Augen. Er redete weiter, aber sie hörte nicht mehr zu. Als er innehielt, nutzte sie die Gelegenheit, um zu sagen: »Ich muss aufstehen, Papa. Ich gehe heute zum ersten Mal wieder zur Arbeit. Unternimm bitte nichts mit dem Laden, ohne vorher mit mir gesprochen zu haben. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, zu verhindern, dass er in die Hände der Bank fällt.«
    Â»Indem du einen Prozess gegen deinen Schutzengel führst?«, fragte ihr Vater verbittert. »Welcher Anwalt wäre wohl so dumm oder verzweifelt genug, solch ein Man dat zu übernehmen?«

» R ien ne va plus!« Julian Kant schob seinen letzten Chip auf Rot, um wenigstens eine Fünfzig-fünfzig-Chance zu haben. Seine rechte Hand zitterte so heftig, dass er sie unter dem Tisch verbarg. Die Augen hinter der horngerahmten Sonnenbrille mit den dunkelgrünen Gläsern tränten.
    Â»Nichts geht mehr!«
    Das Roulette-Rad begann sich zu drehen, schneller und schneller, bis die Zahlen nicht mehr zu erkennen waren und die Farben zu roten und grünen Streifen verschwammen. Das Rattern der auf den Feldern tanzenden Kugel übertönte die leisen Geräusche von der Bar und den anderen Tischen. Alle Spieler starrten gebannt auf die im Kreis wirbelnde Scheibe am Kopfende des Tisches.
    Julian trug ein mehrfach ausgebessertes Hahnentritt-Sakko. Am linken Ärmel fehlte ein Knopf, am rechten Ellbogen begann der Lederbesatz sich abzulösen. Das zerknitterte weiße Baumwollhemd konnte bei etwas gedämpfterer Beleuchtung als sauber durchgehen, die Risse und Löcher der Jeans waren inzwischen modern. Das Casino hatte ihm eine dunkelrote Krawatte aufgedrängt, die selbst in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts zu breit gewesen wäre. Aber die neuen schwarzen Stiefeletten – die passten wie angegossen. Sein letzter Mandant hatte dieselbe Schuhgröße gehabt wie er. Wäre er Landarzt gewesen, hätte er ein Huhn oder ein Kilo Kartoffeln als Honorar erhalten.
    Das Rad drehte sich langsamer, das Rattern der Kugel wurde unregelmäßig. Julian konnte die Kugel nur springen hören, denn er hatte die Augen geschlossen. Rot, dachte er. Mehr will ich nicht. Nur, dass Rot kommt. Auf seiner Stirn glänzte ein dünner Schweißfilm. Feuchte schwarze Haarsträhnen bildeten sich über den Ohren und im Nacken, die fahlen Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Da er seit drei Tagen weder zu Hause noch in seiner Kanzlei gewesen war, hatte er sich auch seit drei Tagen nicht rasiert, was ihm unter anderen Umständen einen verwegenen Charme verliehen hätte. Die Umstände waren aber so, wie sie waren. Deshalb wusste er nicht, vor welcher Tür die Gläubiger ihm gerade auflauerten.
    Â» Cinque. Impair. Noir. Fünf. Ungerade. Schwarz.«
    Julian glitt der Boden unter seinem Stuhl weg. Das war sie, die Stunde seiner tiefsten Demütigung! Er rührte sich nicht, auch nicht, als der Croupier sagte: » Faites vos jeux! Machen Sie Ihr Spiel!« Er wusste, dass er die Augen wieder aufmachen musste. Er musste die Augen öffnen, aufstehen und seinen Platz räumen. Und aushalten, dass jeder am Tisch ihn dabei beobachtete.
    Genauso war es dann auch: Er öffnete die Augen und sah durch seine mit Fingerabdrücken verschmierten Brillengläser, wie praktisch der ganze Tisch ihn anstarrte, während der Croupier einen Stapel Fünfzig-Euro-Chips auf die Fünf schob. Schwankend stand er auf. Mit einer Hand klammerte er sich an der Tischkante fest, bis er sicher war, dass ihm nicht wieder schwindlig wurde. Dann drängte er sich durch den Ring der Zuschauer. Auf unsicheren Füßen stolperte er

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