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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noel Hardy
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anderen Ende der Leitung war so tief und umfassend, als wäre Emma mit dem Kosmos selbst verbunden. Endlich räusperte sich Pieter Schill. »Reicht es Ihnen nicht, sich mit einem Halbgott in Weiß anzulegen? Müssen Sie nun auch noch Gott selbst ins Visier nehmen?«
    Â»Nicht Gott«, widersprach Emma, »nur einen seiner Engel.«
    Â»Und Sie meinen, die stecken nicht unter einer Decke? Nur so zum Spaß gefragt?«
    Â»Falls Sie darauf anspielen wollen«, erklärte Emma geduldig, »dass Jesus gesagt hat, was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan, dann glaube ich, wir können in diesem Fall davon ausgehen –«
    Jetzt räusperte sich der Anwalt nicht mehr, sondern seufzte. Er seufzte fast so tief und lang, wie er zuvor geschwiegen hatte. »Frau Brahms«, sagte er schließlich. »Ich hatte gehofft, dass es nicht so weit kommen würde, aber es scheint kein Weg daran vorbeizuführen: Hiermit lege ich das Mandat nieder und bitte Sie inständig, in dieser Sache auch keinen anderen Rechtsbeistand zurate zu ziehen. Ich sage das in Ihrem eigenen Interesse. Man hat mich darauf hingewiesen, dass Ihre Nahtoderfahrung vielleicht etwas zu lang gedauert haben könnte, ein paar Sekunden nur, aber das reicht angeblich oft, um danach nicht mehr mit beiden Beinen wieder auf der Erde zu landen.«
    Â»Ich bin absolut bei klarem Verstand«, sagte Emma schroff.
    Â»Meine Abschlussrechnung geht Ihnen in den nächsten Tagen zu. Ich würde mich freuen, wenn Sie nicht mit Obszönitäten bekritzelt zurückkäme, sondern einfach beglichen würde, bevor Sie uns endgültig in, äh, andere Gefilde verlassen.«
    Langsam ließ Emma das Handy sinken. Wieder be trachtete sie die aufgeschlagenen Bildbände auf ihrem Bett mit den vielen Engeln, mit und ohne Flügel, in prächtigen Farben und strengem Schwarz-Weiß, gemalt, geschnitzt oder gemeißelt, vor immer wieder anderen Hintergründen und in wechselnder Umgebung. Allen war eins gemein: ein tadelnder, vor wurfsvoller, fast enttäuschter Blick.
    Unter diesem Blick schlief sie ein, und als sie acht Stun den später vom Summen ihres Handys neben dem Kopfkissen geweckt wurde, hatte er sich nicht verändert. Ich tu’s trotzdem, dachte sie.
    Sie meldete sich.
    Â»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte ihr Vater.
    Â»Papa!«
    Â»Seit du von dem Gerüst gestürzt bist, erkenne ich dich nicht wieder.«
    Â»Ich bin nicht vom Gerüst gestürzt«, widersprach Emma. »Das Gerüst ist unter mir zusammengebrochen.«
    Â»Das ist doch dasselbe.«
    Â»In ersterem Fall wäre ich unachtsam gewesen«, beharrte Emma. »Ich bin aber das Opfer der Unachtsamkeit anderer geworden. Es ist also ganz und gar nicht dasselbe.«
    Â»Ich habe gerade mit deinem Anwalt gesprochen«, sagte ihr Vater, ohne auf sie einzugehen. »Auch er macht sich Sorgen um dich.«
    Â»Er macht sich bloß Sorgen um seine Gebühren, sonst nichts.«
    Â»Er hat gesagt, du hättest vor …«, die Stimme ihres Vaters senkte sich ungläubig. »Du hättest vor, deinen Schutzengel zu verklagen!«
    Â»Und?«
    Â»Findest du das normal?«
    Â»Nein. Aber ich finde es auch nicht normal, andauernd so viel Pech zu haben.«
    Â»Wenn deine Mutter noch leben würde …« Ihr Vater gab einen kummervollen Laut von sich. »Als ich dich da im Krankenhaus in deinem Bett liegen gesehen habe, hast du selbst wie ein Engel ausgesehen, und ich musste daran denken, wie du früher …«
    Â»Papa, fang jetzt nicht wieder mit früher an!«
    Â»Weißt du noch, wie du immer die Tierbestattungen vorgenommen hast?«, fragte er, als hätte ihr Einwand nicht die geringste Bedeutung. »Du konntest an keinem toten Vogel, keinem überfahrenen Frosch, nicht einmal an einem leblosen Grashüpfer vorbeigehen, ohne ihn beerdigen zu müssen. Du hast kleine Löcher ausgehoben und alles darin begraben, was nicht mehr lebendig war, egal, in welchem Zustand es sich befand. Du hast ein Gebet gesprochen und …«
    Â»Papa …«
    Â»Aber immer hast du dabei was gefunden«, fuhr er unbeirrt fort. »Ein Kleeblatt mit fünf Blättern, einen Glückspfennig, ein Plastikschweinchen, einmal sogar ein weggeworfenes Los, das dann gewonnen hat. Davon haben wir uns ein Gemälde von …«
    Â»Das nur eine Kopie war«, fiel Emma ihm ins Wort.

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